Er hat sich vorbereitet. Auf einem kleinen weißen Block hat Reinald Schlosser mit einem Bleistift notiert, was er der Reporterin erzählen will. Schlosser, graue Jersey-Hose, bis zum Hals geknöpftes Hemd, hat es aufgeschrieben, so wie er fast alles aufschreibt, dokumentiert und katalogisiert. Er schiebt das auf den Beruf, den er gelernt hat: Chemielaborant. „Ich habe das Forschen im Gen“, sagt er. Und deswegen hat er sich irgendwann „festgebissen“ in diese Sache mit dem Lager.
Das Lager, das zu Schlossers Lebensaufgabe geworden ist, liegt in Gablingen. Es ist eine ehemalige Nebenstelle des Konzentrationslagers in Dachau (wir berichteten). Dass es diesen Ort gibt, war bekannt. Es gab vage Aussagen über den Charakter des Lagers. Aber wo es lag, das wusste niemand so genau – bis Reinald Schlosser, 64 Jahre, Rentner aus Gersthofen, es fand.
Der Durchbruch kommt 2004
Schon immer hat er viel über Zwangsarbeiterlager gelesen, erzählt er. Auch wenn Geschichte normalerweise nicht sein Thema ist. Ein Ort taucht immer wieder in der Literatur auf: Gablingen. Schlosser kann damals nicht glauben, dass es keine Spur mehr gibt von diesem Lager, dass es praktisch vom Erdboden verschluckt wurde. Zehn Jahre hat er in Stettenhofen gewohnt, in unmittelbarer Nähe zu dem Ort. „Ich dachte mir immer: Das muss doch festzustellen sein.“
Irgendwann, es muss gegen 1998 gewesen sein, fasst Reinald Schlosser den Entschluss, „das Nebenlager in Wort und Bild nachzuweisen“. So steht es auf seinem kleinen weißen Block. Er besorgt sich Zeichnungen der US Army und dazu Karten und Pläne der Gegend. Aber dann steckt er fest, kommt nicht mehr weiter. Bis er, fünf Jahre später, eine neue Idee hat: Luftaufnahmen der Alliierten. 2004 fährt Schlosser ins Landesvermessungsamt nach München, wo die Negative der Bilder liegen. Schlosser bestellt sich Abzüge der Fotografien aus den Jahren 1943 bis 1945, daheim in Gersthofen legt er sie chronologisch nebeneinander. Plötzlich ist offensichtlich, wo das Lager gewesen sein muss. Er fährt raus nach Gablingen und stößt sofort auf Überreste. Über den Fundamenten, die noch da sind, wuchern Sträucher, alles ist eingewachsen. Trotzdem weiß Schlosser, was er vor sich hat.
Bis zur Freilegung dauerte es acht Jahre
Das KZ-Nebenlager Gablingen
Das Gelände in Gablingen war ein Außenlager des Konzentrationslagers in Dachau.
Dass es diesen Ort gibt, war bekannt. Es gab vage Aussagen über den Charakter des Lagers. Aber wo es lag, das wusste niemand mehr so genau – bis Reinald Schlosser aus Gersthofen, es fand.
Von Anfang 1944 bis zur Zerstörung durch Bombardements im April 1944 waren dort Zwangsarbeiter untergebracht.
Am Ende waren es über 800 Männer, die in den Messerschmitt-Werken und auf dem Gablinger Fliegerhorst beschäftigt waren.
Drei Gefangene teilten sich einen Schlafplatz, die Ernährung war karg; sechs Häftlinge wurden hingerichtet, weil sie Lebensmittel gestohlen hatten.
Die Gemeinde Gablingen will auf dem Gelände des ehemaligen KZ ein Gewerbegebiet errichten. In welcher Form die Überreste des Lagers erhalten bleiben, soll sich im kommenden Jahr klären.
Bis die Überreste des Lagers freigelegt werden, dauert es weitere acht Jahre. In der Zwischenzeit forscht Schlosser weiter, sammelt akribisch alles, was er über das Lager finden kann. Das meiste kommt aus dem Internet, einiges auch aus Archiven. Auf seinem Computer hat er fein säuberlich mehrere Ordner angelegt, in denen er seine Funde dokumentiert: Todesscheine der hingerichteten Arbeiter, alte Pläne des Lagers, Berichte der Alliierten und Unmengen an Fotografien. 2009 fasst er seine Forschungen in dem Buch „Das KZ Gablingen“ zusammen, Auflage: 20 Stück.
Im vergangenen Sommer vermessen zwei Studenten der Hochschule Augsburg das Gelände, es ist Teil ihrer Abschlussarbeit. Dafür werden Gestrüpp und Unrat beiseite geräumt. Jahrelang wurde auf dem Areal Schutt abgeladen, auf einem Teil des Geländes stand ein landwirtschaftliches Anwesen. Reinald Schlosser hilft der Kreisheimatpflegerin Gisela Mahnkopf, einen Plan zu erstellen: Was kann abgerissen werden, was muss liegen bleiben. Was auf dem Gelände ausgegraben wurde, lagert nun zum Teil im Arbeitszimmer von Reinald Schlosser.
Jedes Stück wird von ihm fotografiert
In roten und durchsichtigen Plastiktüten liegen Tonscherben, daneben eine Glasflasche von Prügelbräu Augsburg, eine Feldflasche, verwittertes Metallbesteck. Links daneben hat Schlosser seine Kamera aufgebaut: Jedes Stück wird von ihm fotografiert, auf einem kleinen Zettel notiert er den Namen des Gegenstands, Fundort, Fundnummer. In ein Findlistenbuch trägt er alle Daten noch einmal ein, danach reinigt er die Gegenstände so gut wie möglich, meist mit einem Pinsel oder einer Zahnbürste. Wichtig sind auch Handschuhe, denn die Überreste stammen aus dem Boden, aus Toiletten, sind möglicherweise giftig. „Natürlich bin ich nur ein Laie“, sagt Schlosser, der das alles ehrenamtlich macht.
Sobald er fertig ist mit einer Ladung, schickt er sie zurück an die Gemeinde Gablingen. Dort lagern sie in einem Keller, was mit ihnen passieren wird, ist noch nicht klar, genauso wenig wie die Zukunft des Außenlagers. Sobald er sich durch die letzten Plastiktüten in seinem Arbeitszimmer gearbeitet hat, sind alle Funde dokumentiert. Fragt man Reinald Schlosser, was danach kommt, ist er sich auch nicht ganz sicher. Er wünscht sich, das Projekt „irgendwann abzuschließen“. In seinem weißen Block wären allerdings noch einige Seiten frei.
Um mehr über Fundstücke sowie das Leben rund um das Lager zu erfahren, sucht Reinald Schlosser nach Zeitzeugen. Wer sich an etwas erinnert, kann sich mit ihm über die Telefonnummer 0821/499283 in Verbindung setzen.