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Asyl: Flüchtlingskrise: München am Limit

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Flüchtlingskrise: München am Limit

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    Als am Samstagnachmittag der Strom der Flüchtlinge nicht abnimmt, zieht München die Notbremse: Wir können nicht mehr.
    Als am Samstagnachmittag der Strom der Flüchtlinge nicht abnimmt, zieht München die Notbremse: Wir können nicht mehr. Foto: Sven Hoppe (dpa) (Archiv)

    Am Samstagnachmittag war es soweit: München zog die Notbremse. "Wir können nicht mehr nicht mehr", heißt es aus der bayrischen Landeshauptstadt. Die Aufnahmekapazität in

    Am Morgen danach erwacht München schwer gerädert. Die Stadt liegt friedlich in der Sonne, der Sonntag hat auf den Straßen eine ordentliche Portion Wochentagshektik weggespült, das schon. Aber die müden Augen des Polizeibeamten vor dem Hauptbahnhof lassen keinen Zweifel daran, dass der Vortag anstrengend gewesen sein muss. So anstrengend, dass die führenden Politiker der Stadt und des Bezirks Oberbayern, die seit Wochen nur ein Thema kennen, sinngemäß eingestehen mussten: Wir können nicht mehr.

    München kann nicht mehr

    Dieser Spätsommermorgen ließe sich in der Landeshauptstadt wunderbar anderweitig nutzen. Englischer Garten, Hellabrunn, runter zur Isar, was auch immer. Aber nun steht der Beamte wieder an der Nordseite des Bahnhofs; dort, wo hinter einer Absperrung die Flüchtlinge mit ihrer Lebensmittel-Ration in der Hand aus der Halle kommen und auf weitere Anweisungen warten. Wie der Samstag gewesen sei? Der Polizist antwortet: „Der Wahnsinn halt.“ Und fügt mit einem gequälten Lächeln hinzu: „Verrückt, wie es dann doch irgendwie geht.“

    Heißt es zunächst, die Aufnahmekapazität selbst aller Notunterkünfte in der Münchner Umgebung sei erschöpft und bis zu 5000 Flüchtlinge müssten auf dem Bahnhofsboden oder im Freien schlafen, trifft dies am Ende weniger als 100 Menschen. Irgendwie geht es eben doch. Kurzfristig bauen die Behörden eine Zeltstadt mit 1000 Plätzen auf, allein auf dem Messegelände sollen 3000 Menschen schlafen. Fast alle der 12200 Flüchtlinge, die am Samstag per Bahn über Österreich einreisen, haben zumindest vorübergehend ein Dach über dem Kopf oder sitzen schon wieder in Sonderzügen in Richtung Norden.

    Trotz erschöpfter Aufnahmekapazität fast alle Flüchtlinge irgendwie untergebracht

    Es ist das Ende eines Tages, der  zwar keine Rekordzahlen bringt – am Sonntag zuvor gab es binnen eines Tages 13000 Neuankömmlinge –, an dem aber zeitweise die Nerven blank zu liegen scheinen. Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) setzt gegen Mittag den ersten Hilferuf ab. Die Stadt sei an der Kapazitätsgrenze angelangt, sagt er. Für mindestens 3000 Menschen wisse man nicht, wo sie untergebracht werden können. Er sei „ernsthaft besorgt“ über die Entwicklung der Lage. Der Regierungspräsident von Oberbayern, Christoph Hillenbrand, ergänzt: „Am Freitag waren wir am Limit. An diesem Wochenende sind wir einen Schritt weiter.“

    Weil sich noch immer kein zweites deutsches Verteilzentrum gefunden hat, redet sich Reiter förmlich in Rage. Wenn die Länderchefs und die Innenminister erklärten, sie seien am „Anschlag“, so empfinde er dies als „dreist“ und „geradezu lächerlich“, schimpft das Stadtoberhaupt. „Das Flüchtlingsproblem ist ein nationales Thema, das wir nicht mehr in München lösen können.“ Seit Ende August sind rund 63000 Flüchtlinge allein in München eingetroffen und erstversorgt worden. Immerhin: Seit gestern ist nun klar, dass das zweite deutsche Drehkreuz in der Lüneburger Heide entstehen soll.

    "Flüchtlingsproblem lässt sich nicht mehr in München lösen"

    Ein Sonderzug nach dem anderen kommt zum Stehen. Polizeibeamte eskortieren die Massen hinüber in den nördlichen Bereich, den Starnberger Flügelbahnhof. Eine Sprecherin der Regierung von Oberbayern bestätigt, dass die Flüchtlinge bei ihrer Ankunft nicht mehr registriert werden könnten. Es gehe nur noch um „humanitäre Versorgung“. Draußen in der Bahnhofshalle ist nun mächtig Betrieb. Es kreuzen sich die Wege von Flüchtlingen, Urlaubern und Augsburger Fußballfans, die auf dem Heimweg vom Spiel beim FC Bayern sind. Doch wie an den Vortagen läuft alles erstaunlich geordnet ab.

    Bei einer Pressekonferenz bitten Reiter, geboren in Rain am Lech, und der gebürtige Augsburger Hillenbrand noch einmal dringend um die Hilfe anderer Bundesländer. München sei am Anschlag, selbst Feldbetten würden inzwischen knapp. „Ich will mir nicht vorstellen, was morgen ist, wenn es wieder so wird wie heute“, sagt Hillenbrand. Es gibt Überlegungen, die Olympiahalle als Notunterkunft herzurichten. Die Polizei startet einen Aufruf: gesucht werden 800 Isomatten und Decken. Die Resonanz ist – mal wieder – gewaltig. Nach wie vor sind hunderte Helfer im Einsatz.

    Zwar ist immer noch nicht klar, wie viele Flüchtlinge im Laufe des Abends eintreffen werden. Trotzdem scheinen sich die schlimmsten Befürchtungen nicht zu bestätigen. „Wir finden für alle ein Dach über dem Kopf“, sagt ein Polizeisprecher. Unter Journalisten wird spekuliert, die Kommunalpolitiker hätten die Lage womöglich ein wenig dramatisiert, um den Druck auf die anderen Länder zu erhöhen. Aber selbst wenn: Wer mag es ihnen verdenken? Und hätten am Ende des Tages nicht auch 20000 Flüchtlinge in München stehen können statt den gut 12000?

    "Langsam sind wir wirklich am Anschlag"

    Marina Lessig, die Koordinatorin der Ehrenamtlichen, lobt am Abend einmal mehr die Hilfsbereitschaft der Münchner, sagt aber auch: „So langsam sind wir wirklich am Anschlag.“ Bis 1.30 Uhr will sie im Einsatz sein – und ab neun schon wieder auf der Matte stehen.

    Der Vormittag ist die Zeit, die ein wenig Luft zum Atmen lässt. So auch gestern. Ganz in der Früh kommt nur eine Bahn mit rund 600 Leuten an, bis zu den nächsten drei Zügen ist noch etwas Zeit. Überall in Bahnhofsnähe sind kleine Gruppen von Syrern oder Afrikanern zu sehen. Es ist ja nicht so, dass die Asylbewerber nur in Hundertschaften einreisen und dann gleich wieder aus dem Sichtfeld verschwinden. Manche sind auf eigene Faust in München gestrandet und suchen nach Orientierung – oder zumindest nach einem Frühstück.

    Wie das junge Pärchen, das händchenhaltend in der nahen Bayerstraße den Reporter unserer Zeitung anspricht. „Please“, sagt die Frau, die ein Kopftuch trägt. „Please“ wird sie in den nächsten Minuten jeden ihrer Sätze beginnen, die sie mühsam auf Englisch zu formulieren versucht. Sie stellt sich als Nadya vor. Die beiden seien aus Syrien und erst in der Früh angekommen. Mazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich – der übliche Weg. Jetzt haben sie Hunger. Die Bahnhofshalle bietet sich an. „Good, good“, sagt Nadya. Noch etwas: „Please“, sagt sie wieder, eine SIM-Karte fürs Handy bräuchten sie. Ihr Partner, gepflegter Vollbart und Baseball-Kappe auf dem Kopf, nickt leicht fordernd. Man könne es doch so machen: „You buy, I give you money.“

    Ein weiterer Mann stößt dazu. „Dortmund?“, fragt er nur. Nadya ergänzt: „How far?“ – wie weit? Als der Mann hört, über 700 Kilometer, macht er große Augen. Vor dem Starbucks-Café bleibt die Gruppe stehen. Gut 20 Frauen und Männer warten dort, einige reden auf Polizisten ein. Nadya sagt: „We stay“ – wir bleiben. Das klingt bestimmt und irgendwie auch doppeldeutig. Kurz darauf führen Beamte die Gruppe durch die „Schleuse“ am Flügelbahnhof. Sie taucht unter im Heer der Hunderttausenden.

    3200 Menschen in andere Bundesländer weitergeleitet

    Mitten in der „Schleuse“, gekennzeichnet durch Absperrgitter der Polizei, steht ein größerer Container, in dem man Karten für touristische Führungen kaufen und Fahrräder leihen kann. „Munich, Salzburg, Neuschwanstein, Dachau“, ist zu lesen. Wie kurios – mit Blick auf die Gitter, die Polizisten und die Ehrenamtlichen mit Mundschutz, den Wasserflaschen und Teddybären für die Kinder drum herum. Immer wieder gehen Passanten sichtlich verunsichert auf die Beamten zu: „Entschuldigung, aber ich wollte eigentlich ein Fahrrad...“

    Über den Tag hinweg entspannt sich die Lage etwas. 3200 Menschen werden in andere Bundesländer weitergeleitet, weit mehr als in den Tagen zuvor. Der Appell der Politiker scheint angekommen zu sein. Die Polizei twittert: „Wer zu Hause noch Kekse hat und helfen möchte... bitte für die Flüchtlinge zum Hbf München bringen.“

    Viele sehen dem, was da noch kommen könnte, mit Skepsis entgegen. Regierungspräsident Hillenbrand sagt, ihm werde von einer „euphorisierten Aufbruchstimmung“ in vielen Ländern berichtet – bis in den Nahen und Mittleren Osten. „Das wird uns von Dolmetschern aus dem Kreis der Flüchtlinge zugetragen.“ Zu diesem Zeitpunkt ist noch nicht bekannt, dass Deutschland ab dem Nachmittag wieder Grenzkontrollen einführen und die österreichische Bahn den Zugverkehr nach Bayern stoppen wird. Ob auch der Hilferuf aus München ein Auslöser dafür war?

    Bahn funktioniert ICE zum Flüchtlingszug um

    Unter den sonstigen Reisenden kommt zweimal kurz Unruhe auf. Zunächst, als die Bahn verkündet, ein regulärer ICE nach Berlin werde zu einem Flüchtlingszug umfunktioniert und die Reisenden müssten auf andere Züge ausweichen – eine Maßnahme, die sich heute wiederholen könnte. „Die Bahn ist mit Personal und Material an einer Grenze angekommen, die Ressourcen sind offensichtlich erschöpft“, sagt Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt unserer Zeitung. Jetzt seien wirksame Maßnahmen nötig, um den Zustrom zu stoppen. „Dazu gehört Hilfe für diejenigen Länder, in die die Flüchtlinge in ihrer Not als Erstes geflohen sind, und dazu gehört eine wirksame Kontrolle unserer eigenen Grenzen.“

    Und dann wird es am Abend noch mal unruhig, als der gesamte Bahnhof geräumt wird. Ein Sprengstoff-Spürhund habe in der großen Halle angeschlagen, heißt es. Nach knapp zwei Stunden gibt die Polizei Entwarnung. Falscher Alarm. Schlussstrich unter ein Wochenende, das den Münchnern schwer zugesetzt hat. (mit dpa und epd)

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