Remigius Hiepp ist ein Mann, der Traditionen liebt. Und so gibt er dem Schlegel der Marienglocke noch einmal Schwung, bevor er den Turm endgültig hinabsteigt. „Das mache ich jedes Mal, zum Abschied“, sagt er. Seit über einem Jahrzehnt, seit er Mitglied in der Kirchenverwaltung von St. Magnus im Kemptener Stadtteil Lenzfried ist, kümmert sich der 55-Jährige um den Glockenturm. Deshalb, sagt er, habe ihm die Diskussion um „seine“ Glocken schon wehgetan. Seit Kurzem nämlich schlagen diese in der Früh später als zuvor. Nachdem sich ein neuer Anwohner über den morgendlichen „Geräuschpegel“ beschwert hatte, wurde das Angelusläuten von 6 auf 7 Uhr verlegt – auch der Stundenschlag nach der Nacht beginnt nun erst um sieben.
„Es gab einige Aufregung“, bestätigt Pfarrer Aleksander Gajewski, der in seiner Schilderung zugleich um Ausgleich bemüht ist: Der Mieter, auf dessen Betreiben das Geläut verschoben worden sei, befinde sich in einer familiär schwierigen Situation. Deshalb habe man sich bemüht, ihm entgegen zu kommen. Erzwingen können hätte der Mann nämlich nichts: „Uns hätte jedes Gericht recht gegeben.“ Das morgendliche Läuten sei Kulturgut – und wegen eines Passus im Regelwerk des Bebauungsplans für das Gebiet praktisch unantastbar.
Tatsächlich, berichtet Stadtplanerin Antje Schlüter, hat sich Kempten im Fall Lenzfried juristisch abgesichert. Denn aus dem „Schaden“, dass bundesweit Prozesse geführt würden wegen Kirchen- und Kuhglocken oder dem Weckruf der Hähne, sei man klug geworden. Als es also um das Neubaugebiet neben der Lenzfrieder Kirche ging, habe man – einzigartig in der Stadt – folgenden Abschnitt in den Bebauungsplan aufgenommen: „Kirchengeläute: In unmittelbarer Nähe zum Plangebiet liegt die katholische Klosterkirche „St. Magnus“. Mit liturgischem und außerliturgischem Kirchengeläute und den daraus folgenden Immissionen ist zu rechnen, die entstehenden Beeinträchtigungen sind im gesetzlichen Rahmen zu dulden.“
Um ganz sicher zu gehen, schrieb die Bau- und Siedlungsgenossenschaft (BSG) Allgäu die Duldung auch in die Kaufverträge – und zwar von der Glocke übers Golfen bis zur Gülle. „Es ist schade, wenn Einzelne gewachsene Strukturen zerstören“, findet Stadtplanerin Schlüter.
Dass viele auf dem Land leben, das Landleben aber nicht ertragen wollen – dagegen sichern sich zunehmend auch Oberallgäuer Gemeinden ab. Beispiel Wiggensbach: Baugrundstücke verkauft die Gemeinde traditionell selbst. Die Verträge, sagt Bürgermeister Thomas Eigstler, enthalten gewissermaßen einen „Allgäu-Teil“. Darin ist geregelt, dass die Käufer Glocken und Gülle hinnehmen müssen – und im Winter Schnee auf dem Grundstück. Aber speziell die Kirchenglocken, ergänzt Eigstler bedauernd, würden ohnehin immer seltener läuten. Etwa den Viertelstundenschlag – den es dagegen beispielsweise in der Kemptener Gemeinde St. Anton noch gibt – vermisse er häufig.
Zurück zum Glockenturm von Lenzfried. Remigius Hiepp schließt die Tür ab. Von ganz oben, wo der Wind hart über die offene Brüstung fegt, kann man das Neubaugebiet aus schwindeligen Höhen sehen. Hiepp zuckt mit den Schultern. Er jedenfalls verstehe die ganze Sache nicht.