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Antisemitismus in Bayern: Ludwig Spaenle gibt AfD Mitschuld an wachsendem Antisemitismus

Antisemitismus in Bayern

Ludwig Spaenle gibt AfD Mitschuld an wachsendem Antisemitismus

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    Der Bundesbeauftragte für Antisemitismus warnte jüngst: „Ich kann Juden nicht empfehlen, jederzeit überall in Deutschland die Kippa zu tragen.“ Eine Expertin in Bayern stimmt zu.
    Der Bundesbeauftragte für Antisemitismus warnte jüngst: „Ich kann Juden nicht empfehlen, jederzeit überall in Deutschland die Kippa zu tragen.“ Eine Expertin in Bayern stimmt zu. Foto: Federico Gambarini, dpa (Symbolbild)

    „Arbeit macht frei“ – ein Unbekannter hat diesen Satz und ein Hakenkreuz auf ein Plakat gekritzelt. Auf ein Plakat, das inmitten des Jüdischen Museums im Gebäude der Augsburger Synagoge steht. In einer Installation zum jüdischen Pessachfest. Dort hat der Unbekannte jenen Satz hinterlassen, der im Nationalsozialismus über den Toren von Konzentrationslagern prangte und zum Synonym für den Massenmord an Juden wurde.

    Eine der Ersten, die von diesem aktuellen Fall in Augsburg erfahren hat, ist Annette Seidel-Arpaci. Sie leitet „Rias“, die neue Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus in Bayern. Seit zwei Monaten existiert die Institution. Betroffene und Zeugen können hier Angriffe gegen die Kultur, den Glauben und das Leben von Juden melden. „Das Traurige ist: Der Fall in

    Zahl antisemitischer Straftaten steigt in Bayern

    „Juden werden fast täglich angegangen“, sagt auch Ludwig Spaenle. Der ehemalige Kultusminister ist inzwischen Beauftragter der bayerischen Staatsregierung für Jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe. „Der Antisemitismus ist im Wachsen“, betont der CSU-Politiker. Immer häufiger und offener werden seiner Einschätzung nach Verunglimpfungen, Anfeindungen und Übergriffe gegen Jüdinnen und Juden sichtbar. Die Facetten des Antisemitismus sind seiner Beobachtung nach höchst vielfältig, gehen quer durch alle Bevölkerungsgruppen und sind in allen Bereichen zu finden. „Allein im vergangenen Jahr verzeichnete die Polizei in Bayern rund 220 antisemitische Straftaten – deutlich mehr als im Jahr zuvor.“

    Doch nicht nur die steigende Zahl der wirklichen Straftaten ist für Spaenle das Problem. Es sei vor allem eine Bereitschaft vorhanden, alte Klischees und Verschwörungstheorien aufzugreifen. Geht es zurzeit der Wirtschaft wieder schlechter, spielten jüdische Banken eine Rolle. Bei einem jüdischen Geschäftsmann werde vermutet, er brauche doch keinen Steuerberater, weil er als Jude ja keine Steuern bezahle. Juden würden offen gefragt werden, warum sie hier sind und nicht in Israel.

    Seidel-Arpaci: Antisemitische Fälle kommen großteils aus "Mitte der Gesellschaft"

    Die gekritzelte Parole im Jüdischen Museum in Augsburg fällt in eine der zwei häufigsten Kategorien, die „Rias“ registriert hat: Schmierereien an jüdischen Einrichtungen. Hassbotschaften am Wegrand, die sich allgemein gegen das Judentum richten. Doch auch Seidel-Arpaci sagt, dass es ebenso häufig zu persönlichen Anfeindungen im Alltag komme. „Antisemitismus beginnt in Denkmustern und drückt sich dann in Sprache und Handlungen aus, zum Beispiel in der Nachbarschaft, wenn jemand von nebenan einem nicht die Hand geben will, weil man Jude ist.“

    In ihrer Arbeit für „Rias“ erfährt sie von Szenen wie der, die sich vor den Türen der Münchner Ohel-Jakob-Synagoge ereignet hat, an einem Tag im April: Ein Mann wettert gegen den Bau der Synagoge und leugnet unverhohlen den Holocaust. Eine Jüdin bemerkt das, stellt ihn zur Rede – und wird selbst zum Ziel seines Hasses. „Dreck“ sei sie. Auch als die Frau die Tiraden des Mannes mit dem Handy zu filmen beginnt, lässt er nicht ab. Das Video liegt „Rias“ vor, den Vorfall veröffentlichte die Stelle auf ihrer Facebook-Seite. „Uns wurden noch einige weitere Fälle gemeldet, die noch geklärt werden müssen“, sagt Seidel-Arpaci. Die politischen Zugehörigkeiten der Urheber von antisemitischer Hetze und Beleidigung seien oft schwer zuzuordnen. „Nach zwei Monaten können wir darüber noch keine konkrete Aussage treffen. Aber ein Großteil der Fälle kommt bis dato aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft.“

    Experte warnt: Kippa zu tragen, kann gefährlich sein

    Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung, warnte jüngst: „Ich kann Juden nicht empfehlen, jederzeit überall in Deutschland die Kippa zu tragen.“ Seidel-Arpaci sagt dazu: „Ich denke, dass er leider recht hat. Und das ist eine Katastrophe.“ Die Verantwortung liege hier aber beim Staat und der gesamten Gesellschaft. „Es kann nicht sein, dass Menschen abgeraten wird, sich öffentlich als Juden zu zeigen.“

    „Antisemitismus ist nichts, was mit dem Judentum zu tun hat. Es sind Fantasien und Gerüchte der Nichtjuden über Juden, Zuschreibungen über eine vermeintliche jüdische Allmacht“, erklärt Seidel-Arpaci. Das äußere sich auch in einer Fixierung auf Israel als Feindbild, als Projektionsfläche des Judenhasses. Sie beobachtet, wie der Antisemitismus im Internet neuen Nährboden findet. Dieser Hass erreiche sie auch auf ihren privaten Kanälen: „Ich musste mich deshalb in den vergangenen Jahren in den sozialen Netzwerken öfters von Leuten, gerade aufgrund von Israelbezogenem Antisemitismus, wieder trennen.“ Doch im selben Netz, in dem sich der Hass verbreitet, will „Rias“ nun auf das Problem aufmerksam machen. Auch auf die Schmiererei in Augsburg.

    Das Internet sieht auch Spaenle als eine der Hauptursachen für den wachsenden Antisemitismus. Aber auch die AfD trage Mitschuld: Sie betreibe „bewusste Geschichtsklitterung“. Damit werde die Toleranzgrenze in der Gesellschaft verrückt.

    Spaenle fordert "Kultur des Hinschauens" bei Antisemitismus

    Was ganz offensichtlich vergessen werde: wie tief jüdisches Leben in Deutschland und vor allem auch in Bayern verwurzelt ist. „Seit der Römerzeit gibt es in Deutschland jüdisches Leben“, erklärt Spaenle. Das älteste Zeugnis stamme aus dem Jahr 321. Gerade dieses Erbe will Spaenle wieder ins Bewusstsein rücken. So werde Bayern 2021 ein Jahr des jüdischen Lebens begehen. Über hundert Organisationen vom Jagdverband über das Rote Kreuz bis hin zum Landessportverband hat Spaenle bereits gebeten, sich mit der internationalen Definition des Antisemitismus zu befassen und sich mit dem jüdischen Erbe in ihren Reihen zu beschäftigen.

    Spaenle hat aber auch Anregungen zur Fortschreibung des Lehrplans gegeben. Und ganz wichtig ist ihm, dass jeder zur Bekämpfung des Antisemitismus beitragen kann und sollte: „Wir brauchen eine Kultur des Hinschauens, wenn Jüdinnen und Juden abwertend oder aggressiv behandelt werden.“ Diese Kultur des Hinschauens sei schließlich die Basis für eine Kultur des Handelns.

    Münchner NS-Dokumentationszentrum zeigt Sonderausstellung

    Wie sehr der Hass von heute dem Hass von gestern ähnelt, zeigt derzeit eine Sonderausstellung im Münchner NS-Dokumentationszentrum. „Die Stadt ohne“ heißt sie. Ein unvollständiger Satz – den der Untertitel ergänzt: „Juden, Ausländer, Muslime, Flüchtlinge“. Ein Video zeigt Horst Seehofer, der an seinem 69. Geburtstag auf 69 erfolgreiche Abschiebungen verweist. Fotos zeigen verwaiste Wohnungen nach NS-Deportationen.

    In sechs Stationen blickt die Ausstellung hinter die Mechanismen von Antisemitismus und Rassismus – von den ersten Warnsignalen bis zur Eskalation, vom „Empathieverlust“ bis zur Suche nach „Sündenböcken“ und Konzentrationslagern.

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