Geschichten liegen auf der Straße, heißt es. Das stimmt nicht ganz. Man muss sie suchen, muss Menschen finden, die sie erzählen. Das tun wir mit dieser Serie. Unsere Reporter fahren durchs Verbreitungsgebiet unserer Zeitung und bringen Geschichten mit. Reiseziele und Gesprächspartner bestimmt oft der Zufall.
Händler preisen Waren in den Amphoren an: Olivenöl, Wein und Fischsoße - das Ketchup der Antike. Es herrscht reges Treiben auf dem Marktplatz, dem Forum. Wenige Meter davon entfernt ist der Lärm nur noch gedämpft zu hören. Der Apollo-Grannus-Tempel ist ein Zentrum des Gebets; ein Ziel für Menschen, die zur inneren Ruhe finden wollen; ein Ort der Hoffnung auf Linderung oder noch besser Heilung von Krankheiten.
Römer bauten ihre Wege auf die Wallfahrtsstätte Faimingen zu
Die Aussicht auf Wohlbefinden lockte nach Faimingen, heute ein Ortsteil der Stadt Lauingen. Wer genau hinsieht, kann die einstige Bedeutung des beschaulichen Dorfes an Donau und Brenz erahnen. Die Römer bauten ihre Wege auf die antike Wallfahrtsstätte - ein Mix aus Altötting und Bad Wörishofen - zu.
Im Süden von Augsburg, aus dem Norden von Bopfingen, von Westen her aus Urspring und schließlich aus dem Osten von Regensburg: Alle Wege führen in die vor rund 1800 Jahren einzige Stadt in der Gegend, die den römischen Soldaten als Stützpunkt diente. Als das Römische Reich vergrößert und der Limes die nördliche Befestigung der Provinz Raetien wurde, war Faimingen (Phoebiana) aus militärischer Sicht vor allem als Nachschub-Standort interessant.
Kaiser Caracalla ließ sich am Wallfahrtsort behandeln
Die Siedler folgten den Soldaten nach. Die dem Apollo Grannus geweihte Kultstätte aber war das, was ins Reich ausstrahlte. Der Ruf war so ausgezeichnet, dass sich sogar Kaiser Caracalla hier im Jahr 213 n.Chr. während des Feldzugs gegen die Alamannen behandeln ließ. Die Weihegaben, die Gebete und Trinkkuren führten jedoch bei dem wenig zimperlichen Imperator nicht zum Erfolg. Der Mann - wird vermutet - litt an Epilepsie.
Arnold Schromm erzählt gerne von der lebendigsten Zeit Faimingens. Er steht am Ostrand der zum Teil wiederhergestellten Tempelanlage, dreht sich plötzlich um und zeigt auf eine drei Meter von ihm entfernt stehende Kalksteinsäule. "Den Säulenstumpf habe ich als Student bei Ausgrabungen entdeckt", sagt der Lauinger Gymnasiallehrer. Er kann sich gut an das "erhebende Gefühl" von damals erinnern.
Über 100 Jahre andauernde Grabungen
1987 markiert das Ende der Grabungskampagne in Faimingen, die mit Unterbrechungen annähernd 100 Jahre gedauert hat. Der Dorflehrer Magnus Scheller begann 1888 die Zeugnisse der Antike ans Licht zu befördern. Archäologie war damals eine schicke Beschäftigung in feineren Kreisen der Gesellschaft.
Mit Liebe zum Detail wiederaufgebaut
Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Zwar ist eine Rinne im Boden noch das einzige erhaltene Original am Ort, der Rest wurde in prähistorische Staatssammlungen geschafft oder liegt in Depots. Aber das, was mit Liebe zum Detail wiederaufgebaut wurde, beflügelt die Fantasie. Die Anlage gehört zu den größten wiederhergestellten römischen Tempelbauten nördlich der Alpen. Die einmalige Chance, die sich daraus für den Tourismus ergibt, scheinen die politischen Entscheidungsträger aber bislang nicht erkannt zu haben. Pläne schlummern nur in der Schublade.
Aufgeweckter ist da der 67-jährige Reinhold Goller, der mit seiner Frau Renate bereits seit mehr als drei Jahrzehnten die Metzgerei am Ort betreibt. Routiniert befüllt er die 200-Gramm-Konservendosen mit frisch produzierter Bierwurst, während sie eine Maschine bedient, die die Dose mit einem Blechdeckel abschließt. Kochsalami, Malzfleisch, Blutwurst, Bierschinken und Leberkäs gehören zu den Spezialitäten.
Leberkäs vom "Tempelmetzger"
"Ja, Leberkäs", bestätigt die 84-jährige Maria Voigt, die ein kleines Haus direkt am Tempel bewohnt. "Warm gibt's den jeden Donnerstag um 11.30 Uhr." Und es sieht in dem Moment, in dem Frau Voigt spricht, so aus, als ob sie sich gerade vorstellt, herzhaft in eine frische Portion Leberkäs vom "Tempelmetzger" hineinzubeißen. "Tempelmetzger" nennen die Gollers ihren Laden mit einer Verkaufsfläche von vier auf zweieinhalb Meter. Klingt gut. Und vielleicht spielt auch ein Aprilscherz noch eine kleine Rolle, der viele Jahre zurückliegt. Aus dem "Hausmetzger" - so lautete damals die Bezeichnung auf einem Schild - wurde über Nacht ein "Mausmetzger".
Die Urheber des Streiches kennt Conny Kitzinger nur zu gut. Ihre Kinder seien dabei gewesen, erzählt sie. Kitzinger steht inmitten ihres verwirklichten Traumes. Die 51-Jährige hat ihr landwirtschaftliches Anwesen in das "Café Coleo" samt Biergarten verwandelt. Bis zu 50 Gäste haben in dem Gastraum Platz. Weder von Architekten noch von Behördenmitarbeitern hat sie sich abhalten lassen. Denn als Angestellte in einem Freizeitpark vor den steigenden Anforderungen nervlich zu kapitulieren - das wollte die gelernte Hauswirtschafterin nicht.
"Dort, wo wir jetzt sitzen, stand vor gut zwei Jahren der Mähdrescher in der Garage", sagt sie und zeigt ein gestaltetes Fotobuch, das sie von ihrer Tochter zum 50. Geburtstag bekommen hat. "Es war das schönste Geschenk überhaupt." Und ein Beleg dafür, was aus Träumen in Faimingen werden kann. Von Till Hofmann