Eine junge Frau in weißem Overall löst sich aus der Menge. Sie sprintet los, schafft es zum Baum und hangelt sich an den Ästen hinauf. In Sekundenschnelle ist sie von Einsatzkräften umringt. Auch im Demonstrationszug bricht Chaos aus, immer mehr schwarze Helme drängen sich zwischen die Menschen, Schreie erklingen: „Vorsicht, Pfefferspray!“
Am Abschlusswochenende der IAA Mobility in München sind tausende Menschen gegen die Messe und die Autoindustrie auf die Straße gegangen. Am Samstag erreichten die Demonstrationen einen zahlenmäßigen Höhepunkt. Die Polizei sprach von etwa 14 500 Teilnehmern einer Fahrrad-Sternfahrt und eines Demonstrationszugs zur Theresienwiese, die Veranstalter von rund 25 000. Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hatte den größten Polizeieinsatz seit 20 Jahren angekündigt, mit insgesamt 4500 Beamtinnen und Beamten. Insbesondere die Sternfahrt sei friedlich und störungsfrei verlaufen, hieß es von der Polizei. Auch die Veranstalter der Proteste twittern positiv gestimmt: „Ein erfolgreiches und kämpferisches Wochenende liegt hinter uns.“ Vereinzelt kam es dennoch zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Aktivisten und der Polizei.
Umweltorganisationen beteiligen sich an Demo gegen die Internationale Automobil-Ausstellung
Die Wut der Demonstrantinnen und Demonstranten richtet sich gegen die Automobilindustrie und die deutsche Verkehrspolitik, sie kritisieren das „Greenwashing“ der Hersteller, die sich ihrer Meinung nach möglichst umweltbewusst inszenieren wollen. Am Samstag schweben riesige Ballons über den Demonstranten auf der Theresienwiese. „CO2 stoppen“ steht auf dem einen, auf dem daneben, einem aufblasbaren SUV, umgedreht: „Verkehrswende Jetzt!“
Nach und nach mischen sich verschiedene Banner und Fahnen in die Menge. Von ADFC, Attac, BUND, der Deutschen Umwelthilfe, von Greenpeace und dem Verkehrsclub Deutschland, die gemeinsam zu Fahrrad-Sternfahrt und Demonstration aufgerufen hatten. Sie alle fordern „eine klare Abkehr von der autodominierten Verkehrspolitik und Vorrang für den Fuß-, Rad- und Nahverkehr“.
Proteste am Samstag in München verlaufen überwiegend friedlich
Schon in den Tagen zuvor geraten Einsatzkräfte und Demonstrierende aneinander. Eine Hausbesetzung, gefährliche Abseilaktionen über Autobahnen, Blockaden. Auch am Samstag kommt es zu Gewalt. Während Sprecherinnen und Sprecher der Gruppen die Menge der Protestierenden mobilisieren, formieren sich die Einsatzkräfte, schwarz gekleidet, Schutzhelme hängen an der Uniform. Ein Aktivist mit Sonnenbrille deutet in die Richtung der Polizei: „Sie sind so ausgerüstet, als würden sie gleich gegen Zombies kämpfen.“
Während Radfahrerinnen und Radfahrer der Sternfahrt durch die gesperrte Innenstadt radeln, schiebt sich der Demonstrationszug von der Theresienwiese aus in Richtung Hauptbahnhof. Immer wieder platzen Rauchbomben in grellen Farben. An beiden Seiten des Zugs laufen Einsatzkräfte, vor allem am großen Block von „Sand im Getriebe“. Die Gruppe, deren Mitglieder weiße Overalls tragen, gilt als treibende Kraft der Proteste.
Zur Eskalation kommt es Minuten später. Aktivistinnen schlüpfen unter den Bannern hindurch und rennen zu den Bäumen. Tumult bricht aus. Später wird die Polizei die Situation als unklar beschreiben und ihr Einschreiten damit begründen, bedrängt worden zu sein. Hätten die Demonstrierenden einem Sprecher zufolge kommuniziert, dass sie nur Banner aufhängen wollten, hätten sich die Einsatzkräfte zurückgezogen. Doch so stürzen Polizisten mit Pfefferspray und Schlagstöcken in die Menge. Lautstarkes Geschrei: „Sie wollen uns einkesseln!“ Regenschirme knicken im Handgemenge, weiße Anzüge zerreißen. Ein Beamter stürzt bei dem Versuch, einen Zaun zu überqueren, umstehende Aktivisten lachen ihn aus. Über dem Zug schwirrt ein Helikopter.
Mit Mühe installieren die zwei Frauen in den Bäumen das Banner, unter den Blicken hunderter Menschen sind ihre Hände fahrig. Als sie das Transparent entfalten, ernten sie spöttische Kommentare – denn es hängt verkehrt herum. So schnell die Stimmung aufgekocht war, so schnell hat sich die Lage wieder beruhigt. Die Einsatzkräfte der Polizei haben sich zurückgezogen. Das Ende der Demo verläuft friedlich.
Bis zum Sonntag ist derweil eine Debatte über den Polizeieinsatz und die Protestaktionen entbrannt. Aktivistinnen und Aktivisten werfen der Polizei vor, unnötig Gewalt eingesetzt zu haben. Innenminister Herrmann lobte dagegen das Einsatzkonzept: Es habe sich „hervorragend bewährt“. Die Polizei sei konsequent eingeschritten und habe ein Zeichen gesetzt, „dass wir hier in Bayern keine rechtsfreien Räume dulden“, sagte der CSU-Politiker. Das Innenministerium verzeichnete 87 Fest- oder Ingewahrsamnahmen. Insgesamt seien 144 Strafanzeigen gestellt worden, 16 weitere wegen Ordnungswidrigkeiten. (mit dpa)