Das heruntergekommene Hotel wirkt wie ein Fremdkörper in dem ansonsten gepflegten Ansbacher Wohnviertel. Das Glas der Laternen mit der Werbung einer Brauerei ist gesprungen, der gelben Leuchtreklame auf dem Dach, die den Hotelnamen trägt, fehlt ein Buchstabe, überall bröckelt der Putz. Touristen steigen hier schon lange nicht mehr ab. Das Gebäude dient als Flüchtlingsunterkunft. Hier in dieser abgelegenen Straße hat Mohammad D. gewohnt, der Attentäter von Ansbach, der sich am späten Sonntagabend vor einem Musikfestival mitten in der Altstadt selbst in die Luft gesprengt hat.
Einen Tag später herrscht eine nur schwer greifbare Stimmung in der Ansbacher Innenstadt. Die engen Gassen zwischen Rathaus und der Stadtpfarrkirche St. Gumbertus sind gesperrt. Überall stehen Polizisten, Absperrbänder flattern zwischen Straßenlaternen und Verkehrsschildern.
Davor stehen Fernsehreporter aus der ganzen Welt. Auf Englisch, Französisch, Italienisch und Russisch sprechen sie von den Ereignissen der zurückliegenden Nacht. Für viele Jugendliche der Stadt scheint das alles ein großes Abenteuer zu sein: Selfies mit TV-Kameras und Polizisten im Hintergrund sind gefragt. Endlich ist was los in der mittelfränkischen Kleinstadt mit ihren 40.000 Einwohnern. Währenddessen sitzen zahlreiche Ansbacher scheinbar desinteressiert in den Straßencafés.
Idylle, die es eigentlich gar nicht gibt
Unvermittelt vollendet eine Hochzeitsgesellschaft das skurrile Bild vor dem Rathaus und kreiert eine Idylle, die es so an diesem Tag eigentlich gar nicht gibt. Denn im weniger als eine Stunde entfernten Nürnberg spricht Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) das aus, was auch in Ansbach viele Menschen längst glauben: Die Umstände der Tat deuten „schon sehr“ auf einen islamistischen Hintergrund hin, sagt er bei einer Pressekonferenz: auf das erste islamistische Selbstmordattentat in Deutschland.
Noch in der Nacht des Anschlags durchsucht ein Sondereinsatzkommando das ehemalige Hotel, in dem der 27-jährige Syrer untergebracht war. Dabei finden sie Material, das zum Bau weiterer Bomben geeignet gewesen wäre, heißt es. Auf einem Laptop und zwei Handys befinden sich zudem islamistische Gewaltvideos und ein Drohvideo des Attentäters selbst, in dem er Rache gegen die Deutschen schwört – weil sie Muslime umbrächten. Er handle im Namen Allahs, sagt der Täter darin. Und bekräftigt seine „Zugehörigkeit“ zu IS-Anführer Abu Bakr al-Bagdadi.
Wie die Vergeltungstat des Syrers ausgesehen hat, erlebte Thomas Tozybinski hautnah mit. Er hatte am Sonntagabend das Festivalgelände beinahe erreicht, als er die Explosion hörte. „Es war ein lautes Knattergeräusch“, beschreibt der 32-Jährige den Knall. „Plötzlich kamen mir Leute entgegengerannt“, erzählt er weiter. „Viele haben direkt gesagt, dass ein Rucksack explodiert ist. Da war mir klar, dass da keine Gasflasche explodiert ist.“ In der Nacht hatte es nämlich erst geheißen, dass die Gasflasche eines Heizpilzes in die Luft geflogen sei.
Terrorismusexperten warnen seit Monaten
Bislang gebe es zwar noch keinen Beleg für einen unmittelbaren Bezug zu islamistischen Organisationen, sagt Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) noch am Mittag. Weder eine Verbindung zum internationalen IS-Terrorismus noch eine psychische Störung des Täters seien auszuschließen. Es könne auch eine Kombination aus beidem sein, so de Maizière. Weit hergeholt ist das nicht. Terrorismusexperten warnen seit Monaten davor, dass gerade psychisch labile Personen ins Beuteschema der IS-Terrormiliz passen, die Einzeltäter im Westen rekrutieren will.
Dass der 27-jährige Syrer in psychiatrischer Behandlung war und als suizidgefährdet eingestuft worden sei, bestätigt Ansbachs Oberbürgermeisterin Carda Seidel. Der Kontakt der Sozialamtsmitarbeiter zu dem Mann sei allerdings „unauffällig“ gewesen, sagt sie – und macht einen etwas angestrengten Eindruck. Wieder rückt ihre Stadt auf grausame Art und Weise ins Blickfeld der Öffentlichkeit: Im September 2009 ein blutiger Amoklauf an einem Gymnasium, im Juli 2015 erschießt ein Amokläufer im nahen Leutershausen zwei Menschen und nun, ziemlich genau ein Jahr später, kommt mit Mohammad D. der Terror nach Mittelfranken.
Ist das Bekennervideo echt?
Am Montagnachmittag dann veröffentlicht die IS-nahe Agentur Amaq im Internet auch auf Deutsch die Meldung, dass Mohammad D. „Soldat“ des Islamischen Staates gewesen sei. Sie nannte seine Tat eine „Märtyreroperation“. Ihren Angaben zufolge folgte der 27-Jährige „Aufrufen, die Staaten der Koalition, die den IS bekämpfen, ins Visier zu nehmen“. In einem vermeintlichen Bekennervideo hat Mohammad D. den Selbstmordanschlag in Bayern angekündigt. Das Video wurde in der Nacht zum Dienstag von Amak, dem Sprachrohr der Terrormiliz Islamischer Staat, im Internet verbreitet. Es zeigt eine Person, die sich ein schwarzes Tuch um den Kopf gebunden hat, so dass nur die Augen zu sehen sind. Die Echtheit des Videos ließ sich zunächst nicht überprüfen.
Die Person, die laut Beschreibung der junge Syrer sein soll, der sich mit einer Bombe bei einem Musikfestival in Ansbach in die Luft gesprengt hatte, schwört in dem Video dem IS-Führer Abu Bakr al-Bagdadi zunächst die Treue und rechtfertigt die bevorstehende Tat mit den Angriffen der internationalen Koalition auf Muslime. Der Attentäter starb bei dem Angriff, 15 Menschen wurden verletzt.
Dabei hätte der Syrer gar nicht mehr in Ansbach sein sollen. Sein Asylantrag sei abgelehnt worden, bestätigt Seidel. „Er hat sich nur mit einer Duldung in Deutschland aufgehalten.“ Am 13. Juli sei er zuletzt vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) aufgefordert worden, „die Bundesrepublik binnen 30 Tagen zu verlassen“. Es war nicht der erste Bescheid dieser Art.
Mohammad D. war vor zwei Jahren nach Deutschland gekommen. Im August 2014 habe er einen Asylantrag gestellt. Im Verfahren seien Registrierungen in anderen EU-Staaten festgestellt worden: Es habe einen Antrag in Bulgarien gegeben und später in Österreich. Bulgarien habe mitgeteilt, dass der Mann dort Schutz zuerkannt bekommen habe – darum hätte er nach Bulgarien abgeschoben werden sollen.
Integrationsbemühungen in Ansbach seien "vorbildlich" gelaufen
Durch die Explosion vor dem Eingang des Open-Air-Konzerts sind laut Oberbürgermeisterin Seidel 15 Menschen verletzt worden, vier davon schwer. In Lebensgefahr schwebe aber niemand. Es bleibt die einzige gute Nachricht an diesem Tag. Denn klar wird auch, dass der mittlerweile abgedroschen wirkende Satz „Absolute Sicherheit gibt es nicht“ zutrifft. 644 Flüchtlinge leben derzeit in Ansbach, verteilt auf zwölf Unterkünfte. Die Integrationsbemühungen seien in ihrer Stadt immer „vorbildlich“ gelaufen, lobt Seidel. Und nun das.
Nach den Ereignissen von Würzburg und München habe die Stadt die Sicherheitsvorkehrungen vor dem „Open Ansbach“-Festival verschärft, betont sie. Zwar sei der Täter am Eingang nur deshalb abgewiesen worden, weil er keine Eintrittskarte für das Festival besessen habe. „Hätte er ein Ticket gehabt, wäre er aber direkt in die Taschenkontrolle gekommen“, beteuert die Oberbürgermeisterin.
Stadtbrandrat Horst Settler ist während der Pressekonferenz im Rathaus die Erleichterung anzumerken. Es sei wichtig gewesen, dass die Räumung des Geländes, auf dem sich zum Tatzeitpunkt rund 2000 Besucher befanden, und die Evakuierung von 35 Anwohnern und Gästen von anliegenden Hotels so schnell über die Bühne gegangen seien.
Als Mohammad D. in der Nähe von Eugens Weinstube vor dem Gelände die Bombe zündet, die er in seinem Rucksack mitgebracht hat, spielt auf der Festival-Bühne Gregor Meyle. Von der Explosion bekommen der Künstler und das Publikum nichts mit. „Etwa zehn Minuten lief die Musik weiter“, so Ute Schlieker, Kulturreferentin der Stadt Ansbach. Doch dann hätten die 150 Rettungskräfte und 260 Feuerwehrleute die Menschen „sehr geordnet und sehr ruhig“ in Sicherheit gebracht und betreut. „Heutzutage müssen wir schneller sein als Twitter oder Facebook“, sagt Stadtbrandrat Settler. Man habe erst am Freitag in München gesehen, wie schnell sich in den sozialen Netzwerken unwahre Gerüchte verbreiten und Panik losbreche. Besonders ärgert sich Settler in diesem Zusammenhang darüber, dass Unbekannte in der Nacht an anderen Stellen in der Stadt Böller gezündet haben.
Thomas Tozybinski hofft, dass die Stimmung in seiner Stadt jetzt nicht kippt. „Ich habe Angst, dass nun alle Flüchtlinge über einen Kamm geschoren werden“, sagt der Augenzeuge des Anschlags. „Hier muss weiter jeder respektiert werden und willkommen sein – solange er auch unsere Regeln respektiert“, sagt er.
Mit "Augenmaß" mit der Situation umgehen
Auch Oberbürgermeisterin Seidel glaubt weiter, „das wirksamste Mittel gegen Gewalt und Radikalisierung ist Integration“. Man müsse nun mit „Augenmaß“ mit der Situation umgehen. Aber: „Wenn Flüchtlinge auffällig oder straffällig werden, sollte man darüber nachdenken, ob man nicht stringenter vorgehen könnte.“ Doch das sei Sache der Bundespolitik, nicht der Kommunen.
Prompt reagiert der Bundesinnenminister. De Maizière erklärt noch am Montag, er wolle mit seinen Amtskollegen in den Ländern über mögliche Schlussfolgerungen beraten. Die Bundespolizei werde ihre Präsenz an Flughäfen und Bahnhöfen sichtbar verstärken. Zudem werde im Grenzbereich das Instrument der Schleierfahndung angewandt.
Seidel will mit der Polizei nun die Gefahrenlage analysieren. Ergebnis: offen. Kurzfristige Maßnahmen sind dabei allerdings wohl nicht zu erwarten. Derzeit steht keine neue Großveranstaltung in Ansbach an. Und auch vor den Flüchtlingsunterkünften in der Stadt plant Seidel keine Verstärkung der Sicherheitsmaßnahmen.
Vor dem heruntergekommenen Hotel, in dem der Attentäter wohnte, stehen am Montag dennoch mehrere Polizisten.
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