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Analyse: Warum sich die Corona-Regeln an den Inzidenzen orientieren müssen

Analyse

Warum sich die Corona-Regeln an den Inzidenzen orientieren müssen

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    Die Maskenpflicht dürfte noch eine ganze Weile gelten. Was aber ist mit der Orientierung an den Inzidenzwerten?
    Die Maskenpflicht dürfte noch eine ganze Weile gelten. Was aber ist mit der Orientierung an den Inzidenzwerten? Foto: Federico Gambarini, dpa

    Warum eigentlich so und nicht anders? Rauf und runter wird diese Frage debattiert. Tag für Tag. In unendlich vielen Variationen. Und unmittelbar nach den Ministerpräsidentenkonferenzen im Bund und den Kabinettssitzungen in den Ländern, wenn mal wieder neue Corona-Regeln beschlossen wurden, herrscht fast schon babylonische Sprachverwirrung. Alle reden von sich. Keiner versteht den anderen. So zumindest hört es sich oft an.

    Ende vergangener Woche, nachdem die Staatsregierung ihr Konzept für erste Öffnungen in Bayern vorgelegt hat, kam die Frage in folgender Form daher: Warum muss es eigentlich so kompliziert sein? Warum gelten plötzlich von Stadt zu Stadt und von Landkreis zu Landkreis bei verschieden hohen Inzidenzwerten verschiedene Regeln? Das gibt doch ein völliges Durcheinander! Das führt doch bloß wieder zum gefürchteten „Shopping-Tourismus!“ Und überhaupt: Wie soll das gehen in Landkreisen und Städten, in denen die Inzidenzwerte um die entscheidenden Marken von 50 und 100 schwanken? Das gibt doch ein Hü und Hott: Geschäfte auf, Geschäfte wieder zu. Schüler in die Schule, Schüler wieder daheim. Private Treffen zu dritt, private Treffen zu fünft.

    Diese Corona-Regeln gelten aktuell in Bayern

    Die Corona-Regeln in Bayern sollen ab 8. März schrittweise gelockert werden. Die Öffnungsschritte erfolgen zeitlich versetzt und unterscheiden sich regional. Ob und wie sehr Beschränkungen wegfallen, hängt von der Sieben-Tage-Inzidenz vor Ort, also im jeweiligen Landkreis oder einer kreisfreien Stadt ab.

    Kontaktbeschränkung

    • unter 35: bis zu drei Haushalte und zehn Personen

    35 bis 100: bis zu zwei Haushalte und fünf Personen

    • über 100: ein Haushalt und eine weitere Person

    Kinder werden jeweils nicht mitgezählt.

    Einzelhandel

    Ab 8. März gilt:

    • unter 50: Öffnung des Einzelhandels

    • über 50: Besuch nur nach Terminvereinbarung

    • über 100: nur Geschäfte des täglichen Bedarfs geöffnet

    Sport

    Ab 8. März gilt:

    • unter 50: kontaktfreier Sport mit max. 10 Personen im Außenbereich

    • über 50: Individualsport mit maximal 5 Personen aus 2 Haushalten und Gruppen von bis zu zwanzig Kindern bis 14 Jahren im Außenbereich

    • über 100: Individualsport nur im Rahmen der Kontaktbeschränkung

    Ab 22. März gilt:

    • unter 50 seit 14 Tagen: kontaktfreier Sport im Innenbereich, Kontaktsport im Außenbereich

    50 bis 100 seit 14 Tagen: kontaktfreier Sport im Innenbereich sowie Kontaktsport im Außenbereich nur mit tagesaktuellen Schnell- oder Selbsttests

    Buchhandlungen, Archive und Bibliotheken

    Ab 8. März gilt:

    • Buchhandlungen, Archive, Bibliotheken und Büchereien dürfen wieder öffnen.

    Museen, Galerien, zoologischen und botanischen Gärten sowie Gedenkstätten

    Ab 8. März gilt:

    • unter 50:Besuch ohne Terminvereinbarung möglich

    50 bis 100: Besuch nur mit vorheriger Terminbuchung und Kontaktnachverfolgung möglich

    • über 100: keine Öffnung

    Schulen

    Ab 15. März gilt:

    • unter 50: Präsenzunterricht in allen Grundschulen und Förderschulen

    • unter 100: Wechselunterricht in allen anderen Schularten

    50 bis 100: Wechselunterricht in Grundschulen

    • über 100: generell Distanzunterricht außer in Abschlussklassen

    Die Festlegung der Unterrichtsform gilt für die gesamte Schulwoche, auch wenn sich die Inzidenz unter der Woche ändert.

    Außengastronomie

    Ab 22. März gilt:

    • unter 50 seit 14 Tagen: Außengastronomie öffnet

    50 bis 100 seit 14 Tagen: Besuch der Außengastronomie nur nach Terminbuchung möglich; Personen aus mehreren Hausständen benötigen tagesaktuellen Schnell- oder Selbsttest, wenn sie am selben Tisch sitzen

    • über 100: keine Öffnung

    Theater, Konzert- und Opernhäuser sowie Kinos

    Ab 22. März gilt:

    • unter 50 seit 14 Tagen: Theater, Konzert- und Opernhäuser öffnen

    50 bis 100 seit 14 Tagen: Besuch nur mit tagesaktuellem Schnell- oder Selbsttest

    • keine Öffnung

    Ausgangssperre

    • unter 100: keine Ausgangssperre

    • über 100: Ausgangssperre von 22 bis 5 Uhr

    Die Politiker haben der Forderung nach Lockerungen in der Corona-Pandemie nachgegeben

    Also: Warum eigentlich so und nicht anders? Die Frage lässt sich in diesem Fall zunächst einmal so beantworten: Weil die Politik der immer wuchtiger vorgetragenen Forderung nachgegeben hat, dass ein harter Lockdown in Regionen mit niedriger Inzidenz gegenüber den Menschen vor Ort nicht zu rechtfertigen wäre, gleichzeitig aber im Grundsatz an ihrem Kurs in der Bekämpfung der Pandemie festhält.

    Dahinter freilich steckt noch etwas anderes: das geltende Recht. Es gehört zu den fundamentalen rechtlichen Grundsätzen, dass Gleiches gleich zu behandeln ist. Darüber können sich auch Regierungen nicht hinwegsetzen, wollen sie nicht vor Gericht eine Niederlage nach der anderen kassieren. Das zentrale Argument dafür, eine Sieben-Tage-Inzidenz von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner als Grenzwert zu bestimmen, war die Möglichkeit der Nachverfolgung der Infektionen. Wenn diese Möglichkeit zur Eindämmung der Pandemie in einer Region besteht, dann gibt es dort keine Rechtfertigung mehr für massive Einschränkungen von Grundrechten. Eine Stadt mit einem Inzidenzwert von 30 kann auf Dauer nicht so behandelt werden wie eine Stadt mit einem Inzidenzwert von 300. Eine derartige Regelung hätte vor Gericht nicht lange Bestand. Auch daran müssen sich Regierungen bei ihren Entscheidungen orientieren. Deshalb so und nicht anders.

    Warum öffnen die Baumärkte, nicht aber Möbelhäuser oder Einzelhändler?

    Weitere Beispiele dafür gibt es jede Menge. Als sich die Staatsregierung in Bayern dafür entschied, den Menschen den Besuch beim Friseur nicht länger zu verbieten, war schnell klar, dass man auch den Besuch beim Fußpfleger oder im Nagelstudio wird gestatten müssen. Als „körpernahe Dienstleistungen“ waren diese Branchen gleich zu behandeln. Kleine Ergänzung für Witzbolde: Bordelle gehören selbstverständlich nicht dazu.

    Oder die Gärtner: Es ist verderbliche Ware, die aktuell in Bayerns Gewächshäusern steht. Das Hauptgeschäft der selbstproduzierenden Gärtner findet vor Ostern statt. Ihnen sollte zuerst geholfen werden. Aber wenn sie öffnen dürfen, dann können auch Blumenläden und Gartenmärkte nicht länger geschlossen bleiben. Und wer diese Öffnungen gestattet, der muss auch der Baywa mit ihrem großen Gartensortiment erlauben, wieder aufzusperren, und kann das in letzter Konsequenz dann auch den Baumärkten mit einem kleineren Angebot an Pflanzen nicht verweigern. Das ist die Antwort auf die zuletzt oft gestellte Frage: Warum eigentlich die Baumärkte, nicht aber Möbelmärkte oder Einzelhändler?

    Der neue Stufenplan wird wohl ärgerliche und belastende Folgen haben

    Die Folgen, die der neue „Stufenplan“ und die vehement geforderte Regionalisierung bei der Corona-Bekämpfung mit sich bringt, werden wahrscheinlich sehr ärgerlich und belastend sein. Die Hoffnung auf eine „Öffnungsperspektive“ bleibt vage. Für einige Branchen, Kulturbetriebe und Sportveranstalter gibt es sie nach wie vor nicht. Wer für seine Wiedereröffnung einige Tage oder gar Wochen Vorlauf braucht, der kann nicht verlässlich planen, wenn das, was vor Ort an Regeln gilt, von schwankenden Inzidenzwerten abhängig ist.

    Deshalb drängt sich längst eine neue Frage in den Vordergrund: Warum eigentlich müssen wir uns weiterhin an starren Inzidenzwerten orientieren und nicht an anderen Kriterien wie der Belegung der Intensivbetten, der Sterblichkeitsrate, der Wirkung von Schutzmaßnahmen oder der gesellschaftlichen Relevanz von Institutionen und Branchen? In Bayern sind es vor allem die Freien Wähler, die mit ihrem „Bayernplan“ in diese Richtung gehen wollen. Ihr Kernargument lautet, dass die Inzidenzwerte in dem Maß an Aussagekraft verlieren, wie die Impfrate steigt.

    Ohne die Inzidenzwerte geht es am Ende nicht

    Das ist zwar richtig, aber es ist halt auch trivial. Sobald jeder die Möglichkeit hat, sich impfen zu lassen, gibt es kein Argument für die Einschränkung von Grundrechten mehr. Dann kann jeder sich selbst schützen. Der Staat hat sich herauszuhalten.

    Bis es so weit ist, gibt es für Regierungen aber vermutlich keine andere Möglichkeit, als die Gültigkeit von mehr oder weniger strengen Regeln an Inzidenzwerte zu knüpfen. Eine Zauberformel, die alle Kriterien berücksichtigt und am Ende zu einem klar definierten Wert kommt, der belastbar ist und einer gerichtlichen Überprüfung standhält, können die Freien Wähler nicht vorlegen. Die Regeln können an die Entwicklung der Infektionslage angepasst werden. Ohne eine Zahl, die jeder versteht, geht es am Ende nicht.

    Dazu nur ein, zugegebenermaßen krasses Beispiel: Die gesellschaftliche Bedeutung von Gastronomie und Hotellerie ist in Kur- und Ferienorten ungleich größer als in industriell geprägten Städten. Sollten die Wirte und Hoteliers dort früher öffnen dürfen? Müssten dann im Gegenzug die Schüler in diesen Regionen länger im Wechselunterricht bleiben? Und wer trifft die Entscheidung – die Staatsregierung, der Landrat oder der Bürgermeister vor Ort?

    Die Folgen kann sich jeder selber ausmalen: Verwirrung und Chaos wären noch größer. Die Frage „Warum eigentlich so und nicht anders?“ würde noch öfter und mit noch größerer Berechtigung gestellt.

    Lesen Sie dazu auch:

    Inzidenz 35, 50, 100: Ab wann gelten vor Ort neue Corona-Regeln in Bayern?

    Stufen-Öffnungsplan: Das sind die Corona-Regeln im Überblick

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