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Analyse: Ein seltsamer Kurs: Freie Wähler vollziehen radikale Corona-Kehrtwende

Analyse

Ein seltsamer Kurs: Freie Wähler vollziehen radikale Corona-Kehrtwende

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    Hubert Aiwanger wollte sich lange nicht impfen lassen. Anfang November teilte der FW-Chef dann mit, er habe es doch getan. Er sei ja auch nie ein Impfgegner gewesen,
    Hubert Aiwanger wollte sich lange nicht impfen lassen. Anfang November teilte der FW-Chef dann mit, er habe es doch getan. Er sei ja auch nie ein Impfgegner gewesen, Foto: Sven Hoppe, dpa

    In der Corona-Politik gab es schon viele Kurswechsel – nicht nur in Bayern. Doch die Kehrtwende, die die Freien Wähler (FW) in den vergangenen Wochen hingelegt haben, ist besonders radikal: Noch im Spätsommer die Partei des Impf-skeptikers Hubert Aiwanger. Jetzt plötzlich im Lager derer, die eine Impfpflicht für alle fordern. Was ist da passiert?

    Lange schien die Rollenverteilung in der Corona-Politik der Koalition in Bayern klar: Die CSU mit Ministerpräsident Markus Söder an der Spitze plädierte für Vorsicht und für harte Maßnahmen. Die Freien Wähler stimmten zwar allen von Söder verlangten Regeln am Ende stets zu – kritisierten zugleich aber beharrlich viele Corona-Einschränkungen. Und forderten gerne schnelle Lockerungen. „Wir dürfen Bayern nicht im Dauer-Lockdown zu Tode schützen“, verlangte etwa Generalsekretärin Susann Enders im Februar. Ende April kündigte Parteichef Aiwanger sogar eine Verfassungsklage gegen die „Bundesnotbremse“ an – nachdem er deren Umsetzung in Bayern zuvor gerade erst zugestimmt hatte. Es gehe darum, „die Freiheitsrechte der Bürger zu verteidigen“, erklärte er. Später forderte Aiwanger gar einen „Freedom Day“ am 11. Oktober – samt Ende aller Corona-Einschränkungen.

    Aiwangers Impfverweigerung beschäftigte wochenlang das Land

    Doch nicht nur der FW-Chef wehrte sich permanent gegen schärfere Regeln: Als Ende Oktober die Neuinfektionen in Bayern wieder stark anstiegen, sagte Fraktionschef Florian Streibl dem Bayerischen Rundfunk, seine Partei halte einen einseitigen Lockdown nur für Ungeimpfte „schlicht für abenteuerlich“. Wenige Tage später lehnte der parlamentarische Geschäftsführer Fabian Mehring die Wiedereinführung der Maskenpflicht in Schulen ab. Auch wenn diese mit Zustimmung von Schulminister Michael Piazolo, ebenfalls Freier Wähler, trotzdem beschlossen wurde.

    Im Sommer beschäftigte zudem Aiwangers Impfverweigerung wochenlang das Land. Vor allem im Bundestagswahlkampf präsentierte sich der Parteichef gerne als Fürsprecher der Impfskeptiker: Er habe „Verständnis für die derzeit noch 20 bis 30 Prozent, die noch nicht geimpft sind“. Es gebe Nebenwirkungen der Impfungen, bei denen „einem die Spucke wegbleibt“, behauptete Aiwanger ohne weitere Belege. Und überhaupt sei Impfen Privatsache, meinte er noch Mitte Juli. Es sei ein „elementares bürgerliches Freiheitsrecht zu sagen: Ich will nicht zum Impfen gezwungen werden können“.

    Die Freien Wähler unterstützen plötzlich die scharfen Corona-Maßnahmen

    Man solle besser mehr testen, statt „die Jagd“ auf Ungeimpfte aufzunehmen, forderte er. Ohnehin werde das Impfen im Herbst vielleicht gar nicht mehr nötig sein, so Aiwangers Prophezeiung. Dass er bereits ein Jahr zuvor mit seinen Corona-Prognosen („Ich glaube nicht an eine zweite Welle“) an der Realität gescheitert war, schien vergessen. Einschränkungen nur für Ungeimpfte verglich der 50-jährige Vizeministerpräsident gar mit dem früheren Apartheid-Regime in Südafrika.

    Und jetzt? Anfang November teilte Aiwanger mit, er habe sich nun doch impfen lassen. Er sei ja auch nie ein Impfgegner gewesen, so seine Beteuerung. Die Freien Wähler unterstützen plötzlich zudem die verschärften bayerischen Corona-Maßnahmen, die Söder unwidersprochen einen „Lockdown für Ungeimpfte“ nennt. Und selbst die Impfpflicht für alle ist für die Freien Wähler kein Tabu mehr: Vieles spreche dafür, findet etwa Fraktionschef Streibl, „wenn wir nicht jedes Jahr aufs Neue einen Anstieg der Inzidenzen erleben wollen“.

    Aiwanger ist derzeit auffallend still

    Schon im Sommer hatten manche Freien Wähler – leise – ihren Unmut über Aiwangers Kurs kundgetan. Im Landtag zerlegte Streibl kürzlich dann Aiwangers bisherige Corona-Argumente auf offener Bühne. Ist Impfen wirklich Privatsache, wie der Vizeministerpräsident im Sommer behauptete? „Wir haben uns viel zu sehr angewöhnt, den Eigensinn vor den Gemeinsinn zu stellen“, hielt Streibl nun lautstark dagegen. Und hilft das Testen nicht genauso gut gegen Corona wie das Impfen? „Mit dem Testen schaffen wir keine Immunisierung“, zerbröselte Streibl das von Aiwanger oft bemühte Argument. „Einen Weg aus der Pandemie“, sagt der Fraktionschef, „finden wir letztlich nur durch das Impfen“.

    Und Aiwanger selbst? Ist derzeit auffallend still. Es gebe noch „reihenweise ungeklärte Fragen“ zu einer Impfpflicht, sagte er zuletzt schmallippig. Ein kategorisches Nein würde anders klingen. Das Eingeständnis eigener Corona-Fehleinschätzungen war bislang von ihm aber nicht zu hören.

    Von Fehlern will man bei den Freien Wählern nichts wissen

    Auch andere Freie Wähler wollen von Fehlern nichts wissen: Im Sommer sei der lockere Kurs richtig gewesen, nun habe sich halt die Lage geändert, heißt es lapidar. „Wenn ein Sturm aufzieht, muss man eben die Segel einholen und vielleicht von seinem Kurs abweichen“, redet Streibl die Kehrtwende schön. Anstatt sich alte Fehler vorzuwerfen, sei es ohnehin besser, gemeinsam nach Lösungen suchen, findet der Fraktionschef.

    Doch woher kommt dieser radikale Corona-Kurswechsel der Freien Wähler? Grünen-Fraktionschef Ludwig Hartmann hat dafür eine simple und griffige Erklärung. Auch wenn die Aiwanger-Partei das „Freie“ sogar im Namen trage: „Keiner kann sich auf Dauer frei machen von den wissenschaftlichen Wahrheiten der Corona-Bekämpfung in unserem Land.“

    Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hält sich mit Kritik am Regierungspartner bislang zurück. Aiwangers späte Impf-Entscheidung lobt er sogar bei jeder Gelegenheit. Einen gut verpackten Seitenhieb wollte sich der CSU-Chef indes dann doch nicht verkneifen: Manche „aus dem politischen Umfeld haben den Eindruck erweckt, es brauche kein Impfen mehr, Corona sei vorbei, und man könne das Ganze sein lassen“, kritisierte Söder im Landtag. Auch dies sei ein Grund für die niedrige Impfquote in Bayern und die hohe Zahl der Neuinfektionen.

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