Die ersten Skitourengeher steigen an diesem Morgen vor Sonnenaufgang hinauf. Während es in den Tälern schon Frühling ist, zeigt sich das 1787 Meter hohe Riedberger Horn noch im winterlichen Kleid. Wenig später strahlen die weißen Firnhänge im Licht der aufgehenden Sonne. Oben, auf dem Gipfel, bietet sich den Bergsteigern ein atemberaubendes Panorama. Der Blick reicht von den Schweizer Bergen über den Allgäuer Hauptkamm im Süden bis hin zum Gottesackerplateau und zum Hohen Ifen.
Das Riedberger Horn hat Karriere gemacht wie kaum ein anderer Berg – wenn man so etwas über einen Gipfel sagen kann. Durch die seit Jahren so kontrovers geführte Diskussion über den Bau einer Skischaukel, also den Zusammenschluss zweier Skigebiete, hat es das Horn zu einem beträchtlichen Bekanntheitsgrad gebracht. Um den von Naturschutzverbänden heftig umstrittenen Liftverbund im Allgäu zu ermöglichen, hatte der bayerische Landtag mit CSU-Mehrheit im vergangenen Jahr den Alpenplan geändert. Erstmals seit über 40 Jahren wurde die Grenzziehung der höchsten Schutzzone C so geändert, dass der Bau eines Liftverbundes theoretisch möglich wäre.
Dann kam bekanntlich alles anders. Wohl in erster Linie, um das lästige Thema Riedberger Horn vor Beginn des Landtagswahlkampfs loszuwerden, zog Ministerpräsident Markus Söder die Notbremse. „Ein Skigebietszusammenschluss zwischen dem Riedberger Horn und Grasgehren wird zunächst nicht beantragt“, verkündete der örtliche CSU-Landtagsabgeordnete Eric Beißwenger einer verblüfften Öffentlichkeit. Mindestens für die nächsten zehn Jahre sei das Thema vom Tisch. In den beiden ansässigen Gemeinden Balderschwang und Obermaiselstein laute das Motto künftig „Öko-Tourismus statt Skigebietszusammenschluss“. Mit einer solchen Kehrtwendung hatte niemand gerechnet.
Im Ostallgäu beneidet mancher die Hörnerdörfer
20 Millionen Euro haben Söder und die CSU den beiden Hörnerdörfern versprochen. Viel Geld, sagen manche hinter vorgehaltener Hand, und im benachbarten Ostallgäu schielen einige bereits neidisch auf die Hörnerdörfer. Der Münchner SPD-Politiker Florian von Brunn bezeichnet die zugesagten Millionen als „Skandal“ angesichts der Finanznot anderer hoch verschuldeter Alpengemeinden, „die sogar ihre Schwimmbäder zusperren müssen“.
Im etwa 1000 Einwohner zählenden Obermaiselstein hat Bürgermeister Peter Stehle (CSU) bei einer Bürgerversammlung in der vergangenen Woche offen gesagt: „Das Umdenken ist uns mit dem neuen Maßnahmenpaket relativ leicht gefallen.“ Damit meint er die Vorschläge aus München zum Thema sanfter Tourismus. Im Gespräch sind fünf Projekte, wobei die „Förderung für die umweltfreundliche Modernisierung von Liften und Seilbahnen“ darin auch enthalten ist – aber eben kein Zusammenschluss der beiden bestehenden Pistengebiete. In den betroffenen Gemeinden gibt es allerdings nach wie vor Stimmen, die lieber eine Skischaukel hätten. Dazu gehört Berni Huber, ehemaliger Ski-Rennfahrer und Geschäftsführer der Grasgehren-Lifte. „Wir sind um eine große Chance gebracht worden“, sagte er in der Bürgerversammlung. Auf die Frage, wie er die neuen Projekte beurteile, meinte er, er sei noch „hin- und hergerissen“.
Auf der Suche nach Beispielen, wie sanfter Tourismus im Allgäu aussehen kann, treffen wir am Großen Alpsee in Immenstadt-Bühl Rolf Eberhardt, 47. Er ist Geschäftsführer des Naturparks Nagelfluhkette, den es nun seit zehn Jahren gibt. Das aus Holz gebaute Alpseehaus ist sozusagen die deutsche Zentrale des grenzüberschreitenden Naturparks, dem 15 Gemeinden aus dem Oberallgäu und dem österreichischen Vorarlberg angehören – darunter auch Balderschwang und Obermaiselstein. Im Alpseehaus gibt es unter anderem eine Erlebnisausstellung, eine kleine Gastronomie, und es werden regionale Produkte verkauft.
Neben dem Natur- und Landschaftsschutz sowie der Umweltbildung sei eines der Parkziele ein nachhaltiger, qualitativ hochwertiger Tourismus und dessen Vermarktung, sagt Geschäftsführer Eberhardt. Der 27-jährige Max Löther, ein studierter Forstingenieur, ist einer von drei beim Naturpark angestellten Ranger. Die kümmern sich beispielsweise um die Besucherlenkung in ökologisch sensiblen Gebieten – unter anderem eben am Riedberger Horn. Dort werden, je nachdem, wie die Verhältnisse sind, Infotafeln nur dann aufgestellt, wenn dies zum Schutz von Wildtieren wie den Birkhühnern erforderlich ist. Ändern sich die Gegebenheiten, werden die Beschränkungen wieder aufgehoben.
Das Credo lautet: nur so viele Sperrungen wie nötig
Konflikte zwischen Naturschutz und Freizeitverhalten sollten partnerschaftlich gelöst werden, findet Eberhardt. In den meisten Fällen sei es auch möglich, Kompromisse zu finden. Sein Credo lautet: nur so viele Sperrungen und Regulierungen wie nötig. Naturpark-Ranger Löther nennt ein anderes Beispiel für sanften Tourismus: Einmal in der Woche gibt es im Alpseehaus eine Gästebegrüßung für die neu Angekommenen. Mit vielen Tipps für einen naturverträglichen Urlaub und Hinweisen, beispielsweise über das Angebot von Themenwanderungen.
Quasi als Entschädigung für die Skischaukel, die es nicht geben wird, ist im Gebiet Riedberger Horn ein „Zentrum Naturerlebnis Alpin“ im Gespräch. Dieses „Leuchtturmprojekt“ sei ein „Impulsgeber für einen natur- und klimaverträglichen Tourismus“, sagt CSU-Politiker Beißwenger. Es gibt Überlegungen, ein Umwelt-Infozentrum in der Nähe der Riedbergpass-Höhe zu bauen. „Das Investitionsvolumen beträgt 15 Millionen Euro für den Bau und 500.000 Euro pro Jahr für den laufenden Betrieb“, heißt es in einer Erklärung Beißwengers: „Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, um anzupacken und beispielhaft voranzugehen.“
Dazu gehört auch ein umweltfreundlicher Busverkehr über den Pass mit alternativem Antrieb und ein schnelleres Internet. Und: Der Bundesstützpunkt Ski- und Bordercross an den Grasgehrenliften soll mit insgesamt 1,2 Millionen Euro unterstützt werden. Von „modernem Skisport“ ist die Rede und auch von einer „Modernisierung der Seilbahnen und Skilifte“.
Ist nach so vielen Versprechungen der Konflikt ums Riedberger Horn beendet? Nein, heißt es unter anderem beim Bund Naturschutz, beim Landesbund für Vogelschutz und dem vor einem Jahr gegründeten Freundeskreis Riedberger Horn, der nach eigenen Angaben inzwischen an die 5000 Unterstützer hat. Die Gegner der Skischaukel wollen nun erreichen, dass die umstrittene Änderung des Alpenplans rückgängig gemacht wird. Das aber lehnt Söder ab. Außerdem sind die Naturschutzverbände mit den Plänen für die Modernisierung der veralteten Liftanlagen am Grasgehren und dem Bau eines Speicherbeckens für die Beschneiung nicht einverstanden.
Nicht erst seit heute gibt es Streit um die Frage, wie sanfter Tourismus aussehen soll. In Bad Hindelang, ebenfalls im Oberallgäu gelegen und nicht weit von den Hörnerdörfern entfernt, haben vor ziemlich genau 20 Jahren Gemeinde und Bund Naturschutz über den richtigen Weg gestritten. Hindelang hatte sich bereits Ende der 80er Jahre mit seinem viel gepriesenen „Ökomodell“ eines sanften Tourismus bundesweit einen Namen gemacht. Dann aber beschloss die Gemeinde, Schneekanonen im Skigebiet Oberjoch aufzustellen. Der Bund Naturschutz drohte Hindelang damit, das Ökomodell bundesweit als Etikettenschwindel anzuprangern.
Mit dem „Ökomodell“ wird kaum noch geworben
Wie der Streit ausging? Heute kann das Skigebiet Oberjoch flächendeckend beschneit werden, und inzwischen befördern statt der alten Schlepplifte moderne Sesselbahnen Wanderer und Skifahrer hinauf. Mit dem Begriff Ökomodell wird kaum noch geworben. Doch der Verein und der Markenname „Natur und Kultur“ stehen weiterhin für einen sanften Tourismus. Der Anteil der Biobauern ist in Bad Hindelang so hoch wie in kaum einer anderen Allgäuer Kommune.
Die Marktgemeinde hat sich vor knapp vier Jahren mit ihrem Ortsteil Hinterstein um das Öko-Zertifikat „Bergsteigerdorf“ beworben – und blitzte damit ab. Der geplante Bau eines Wasserkraftwerks in der Nähe der sogenannten Eisenbreche stand der ökologischen Ausrichtung aus Sicht des Alpenvereins entgegen. Inzwischen hat das Verwaltungsgericht die Kraftwerkspläne abgelehnt und in Bad Hindelang wird eine erneute Bewerbung nicht ausgeschlossen.
Der Schnee am Riedberger Horn wird in den nächsten Wochen tauen. Dann wird sich der Berg nicht mehr als weißes Horn präsentieren, sondern als grüne Alplandschaft mit Wiesen und weidenden Kühen, Heidelbeer- und Alpenrosenbeständen, Grünerlen sowie anderen Zwergsträuchern. Wie sich dieses Erholungsgebiet und zugleich Lebensraum der Birkhühner entwickeln wird, ist offen. Obermaiselsteins Bürgermeister Peter Stehle jedenfalls ist optimistisch: „Die ganze Region wird profitieren, Gewinner oder Verlierer gibt es nicht.“