„Außer Betrieb“ steht auf dem Schild, das den Weg zum Liftparkplatz weist. Noch parken nur wenige Autos auf der Kiesfläche. Ja, wer früh genug aufsteht, hat den Grünten fast für sich alleine. Später werden Fahrzeuge den Platz füllen und die Wanderer in Gruppen den Berg hinaufströmen. Nicht mit der Bergbahn. Die fährt schon lange nicht mehr. Die Schilder am Wegesrand, die für die „Rodelgaudi“ am Grünten werben, sind verblichen.
Jetzt, um 7 Uhr morgens, ist die Luft noch angenehm kühl und in Kranzegg, im Dorf am Fuße des Berges, das zu Rettenberg gehört, ist es noch ruhig. „Ferienhaus zu vermieten“ steht auf einem Plakat, das an einem Balkongeländer hängt. Ein erster, steiler Anstieg führt an einem rauschenden Wildbach entlang, danach lichtet sich der Nebel und hinter den Bäumen tauchen der Grünten-Gipfel und der 94 Meter hohe, rot-weiße Sendeturm auf, der zum Wahrzeichen des Bergs geworden ist. Die Stahlstützen der alten Sessellifte und Schlepper ragen aus den Alpwiesen. Um sie herum liegen Berggasthöfe und Alphütten.
Früher lebten die Wirte hier vom Skibetrieb. Seit 1960 liefen die Anlagen. Generationen vor Oberallgäuern lernten hier das Skifahren. Bis zur Wintersaison 2016/17 – dann war Schluss. Der frühere Besitzer und die Bürger der Gemeinde hatten ihre ganze Hoffnung in einen Schweizer Investor gesetzt, der versprach, 80 Millionen Euro am Grünten zu investieren. Doch der entpuppte sich als Hochstapler und für die Lifte gab es keine Zukunftsperspektive mehr. So standen die Anlagen in der Wintersaison 2017/18 das erste Mal seit Jahrzehnten still und ein Insolvenzverwalter suchte per Anzeige Interessenten, die willens sind, am Berg zu investieren.
Mit der Unternehmerfamilie Hagenauer, die bereits die Alpsee-Bergwelt in Immenstadt betreibt, wurde 2018 schließlich ein Investor gefunden. Im Mai gaben sie bekannt, das Gebiet für 30 Millionen Euro modernisieren zu wollen, und stellten ihre Pläne für eine „Grünten-Bergwelt“ vor: Sieben alte Anlagen werden abgebaut, zwei neue Bergbahnen und ein Schlepplift errichtet. Zudem soll die Grüntenhütte durch eine moderne Gastronomie ersetzt und mit einer „Walderlebnisbahn“ eine Attraktion für den Sommer geschaffen werden. Wurden die Pläne bei zwei Bürgerversammlungen noch mit viel Applaus begrüßt, entbrannte schon bald ein Streit um den „Wächter des Allgäus“, wie der Grünten genannt wird.
Kühe grasen gelassen weiter, als der Wanderer ihren Weg kreuzt. Von hier aus betrachtet, sieht Kranzegg im Tal friedlich aus. Doch das Dorf ist zwischen Gegnern und Befürwortern des Grünten-Projekts tief gespalten.
36 Stunden vorher ist es im Saal des Gasthofs Adler-Post eng geworden. Über 200 Rettenberger sind zum Informationsabend der Bürgerinitiative, die sich für das Projekt einsetzt, gekommen. Im großen Saal im Obergeschoss sind alle Stühle besetzt, sogar auf den Bierbänken am Fenstern ist fast kein Platz mehr frei. Von hier aus kann man den Grünten sehen, der sich neben dem Dorf erhebt. Drinnen ist die Luft stickig, aber die Stimmung gut. Es gibt Beifall für das Grünten-Projekt.
Die Gemeinde Rettenberg lebt vom Geschäft mit den Urlaubern – das jahrzehntelang eng mit den Grünten-Liften verbunden war. Auch für die Vermieter und die drei Brauereien, die es im Dorf gibt, ist der Tourismus eine wichtige Einnahmequelle. Deshalb hat sich im Ort inzwischen eine Bürgerinitiative formiert, die für das Projekt kämpft. Die Gruppe „Zukunft Grünten – Wir für den Berg“ hat auf ihrer Internet-Seite Aussagen von Einheimischen zusammengetragen.
Ein Landwirt und ein Alpmeister kommen zu Wort, ein Brauereichef und ein Jäger, ein Touristiker, ein Hüttenwirt und ein Vermieter. Sie alle erklären, warum die „Grünten-Bergwelt“ wichtig für das Dorf und den Tourismus ist. „Wir wollen zeigen, dass es nicht nur Gegner, sondern auch Befürworter gibt“, sagt Angelika Soyer. Die Rettenbergerin ist Landwirtin, Vermieterin und Vorsitzende des Vereins „Mir Allgäuer – Urlaub auf dem Bauernhof“. Ihre Gäste fragen schon, wann die Lifte am Grünten wieder laufen. Und sagt dann: „Wir sind keine Retter des Grüntens, weil der Berg von niemandem gerettet werden muss.“ Dafür gibt es viel Applaus.
„Rettet den Grünten“ heißt die Bürgerinitiative der Projektgegner. Auch zu ihrem Treffen zwei Wochen zuvor in der wenige Kilometer entfernten Kreisstadt Sonthofen kommen rund 200 Personen. Darunter Bürger aus Rettenberg, Grundstücks- und Alpbesitzer, Vertreter von Bund Naturschutz und „Fridays for Future“. Auch der Freundeskreis Riedberger Horn ist dabei, der sich erfolgreich gegen das umstrittene Bergbahn-Projekt stemmt.
Max Stark, der den Abend moderiert, bezeichnet sich selbst als Naturliebhaber und Bergsteiger. Von seiner Terrasse in Sulzberg aus kann er auf den Grünten schauen. „Die Pläne werden uns als naturverträgliches Konzept verkauft, die aus Heimatliebe umgesetzt werden“, sagt Stark. „Dazu passen aber Rollglider und Beschneiungsanlagen nicht.“ Die Bürgerinitiative hat ein Leitbild mit 15 Punkten aufgestellt: Darin fordert sie Tourismus mit Maß, eine Lösung für die Verkehrsprobleme und den Verzicht auf den Sommerbetrieb, der zu einer Überlastung des Berges führen würde.
Wer den Weg Richtung Gipfel weitergeht, erreicht nach einer Stunde das Plateau am Fuße des Gipfels. Trampelpfade schlängeln sich an den Liften entlang. Mitten auf der Alpwiese steht eine große Skigebiets-Karte, dahinter war jahrelang der Ausstieg des Berglifts. Die alten Schlepplifte sollen abgerissen werden, auch der Gipfellift, unter dem gerade die Rinder weiden, soll verschwinden. Geplant ist zudem ein Besucherlenkungskonzept für den Grünten, das Rettenberg gemeinsam mit den Nachbargemeinden Burgberg und Wertach umsetzen will. Wege sollen aus- und Trampelpfade zurückgebaut werden, sagt der stellvertretende Bürgermeister Thomas Tanzer. Damit dort bald wieder die Kühe grasen können. Der Rettenberger Gemeinderat steht hinter den Plänen, auch die Grünen. Die Gemeinderäte müssten aber auch mit Anfeindungen leben, erzählt Tanzer. „Wir sind zum Rücktritt aufgefordert worden und uns wurden Abhängigkeiten unterstellt.“
Auf 1477 Metern erreicht man die Grüntenhütte. Ein Hund schießt wild bellend hinter einer Holzhütte hervor und stellt sich dem Besucher in den Weg. Noch ist die Terrasse leer. Auf den Bierbänken werden später mehrere hundert Gäste Platz nehmen. Die Hütte ist bei Bergsteigern ebenso beliebt wie bei Tourengehern. Deswegen ist ihr Umbau ein großer Streitpunkt. Das zweite Thema, an dem sich der Streit um den Grünten entzündet, ist die „Walderlebnisbahn“, die geplante Sommerattraktion. Eine drei Kilometer lange Seilrutsche, an der die Menschen zwischen Bäumen ins Tal rauschen können.
„Waldzerstörungsbahn“ nennt Julia Wehnert, Geschäftsführerin der Bund-Naturschutz-Kreisgruppe Kempten-Oberallgäu, die Pläne. Von ihrem Büro in Immenstadt-Bühl hat sie einen schönen Blick auf den Großen Alpsee und die zahlreichen Passanten, die an der Seepromenade flanieren. Im Regal über ihrem Schreibtisch stehen schwere Ordner – gefüllt mit Stellungnahmen zu Bergbahnprojekten. „Wir haben nicht alle abgelehnt“, betont Wehnert, 55. So hatte der Bund Naturschutz beispielsweise keine Einwände gegen den Neubau der Nebelhornbahn in Oberstdorf – wohl aber gegen die Grünten-Pläne.
Es ist nicht nur die „Walderlebnisbahn“, die die Naturschützer stört, sondern der Sommerbetrieb an sich. Die neuen Bergbahnen liegen – anders als beim umstrittenen Projekt am Riedberger Horn – nicht in der höchsten Schutzkategorie C des Alpenplans. Aber sie befördern die Besucher direkt an die Grenze zum Schutzgebiet. Wehnert befürchtet deshalb negative Folgen für Tiere und Pflanzen am Grünten.
Im Gasthof Adler-Post hat die Familie Hagenauer an einem Tisch mitten im Saal Platz genommen. Die Investoren wohnen in der Gemeinde, sind in Vereinen aktiv und im Dorf bekannt. Wenn die Vertreter der Bürgerinitiative sie nach vorne bitten, um Fragen zu beantworten, dann ist man beim „du“.
„Es sind schon viele Menschen da und durch die Grünten-Bergwelt werden noch mehr Menschen kommen“, sagt Anja Hagenauer. „Aber es geht darum, die Besucher gut zu lenken.“ Die 22-Jährige will gemeinsam mit ihrem Bruder langfristig ins Geschäft ihrer Eltern einsteigen. Das Projekt am Grünten ist für sie eine Chance. Auch ihr Vater Martin Hagenauer, 51, ergreift an diesem Abend das Wort. Er erklärt, dass die „Walderlebnisbahn“ noch einmal neu geplant wurde. Sie soll jetzt im oberen Bereich nicht mehr durch den Tobel verlaufen, den die Naturschützer für besonders schützenswert halten. Über die Kritik an der Bahn sagt er: „Es kann eine andere Attraktion sein, aber eine Attraktion brauchen wir, um 30 Millionen Euro zu investieren.“
Hagenauer arbeitet gerade mit Planern und Architekten an den ersten Bauanträgen, die er in zwei Monaten einreichen will. Dann liegt das Projekt in der Hand der Genehmigungsbehörden. Der Kampf um den Grünten wird wohl weitergehen, egal wie die Entscheidung ausfällt: Die Bürgerinitiative der Gegner bereitet weitere Informationsabende vor. Der Bund Naturschutz will sich die Pläne genau anschauen und – falls es notwendig ist– auch rechtliche Schritte einleiten. Ein Bürgerentscheid über das Projekt scheint wahrscheinlich.
Auf den letzten Metern hoch zum Grünten wird es steil. Auf einer Geröllpiste geht es am alten Gipfellift vorbei, ein Stahlseil ist in den Stein geschlagen. Dann taucht hinter einem Felsen der Gipfel auf, auf 1738 Metern. Jetzt, gegen 9 Uhr morgens, ist es menschenleer. Später werden sich hier die Bergsteiger drängen.
Wenn man hier oben sitzt und den Blick über das beeindruckende Panorama schweifen lässt, kann man alle Seiten ein wenig verstehen: Alle, die heraufsteigen wollen. Die Menschen, die den Berg beschützen möchten. Und die, die den Grünten für sich allein haben wollen.