Konrad Müller steht im kniehohen Wiesengras und schaut auf den Kalbskopf, der neben ihm auf dem Boden liegt. Ein warmer Wind lässt die blassgrünen Halme zittern, Mücken surren durch die Sommerschwüle, man hört das Gebimmel von Kuhglocken. Müller fährt sich mit der Hand durch seine grauen Haare, blickt noch immer fassungslos auf das, was von dem Kälbchen übrig ist und sagt: „So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt.“
Müller ist Landwirt. Ein großer, kräftiger Mann, den so schnell eigentlich nichts erschüttern kann. Seit vergangenem Dienstag ist das anders. Müller war im Morgengrauen zu seiner Weide am Grünten gefahren, um nach seinen Tieren zu sehen. Mehrere Kühe waren trächtig, der Bauer hatte eigentlich gedacht, ein neugeborenes Kälbchen im hohen Gras zu finden. Stattdessen entdeckte er einen Kopf. Und zwei Beine. Ein paar Rippen waren auch noch übrig. Wenige Meter entfernt lag ein zweites totes Kalb mit Bissverletzungen. Eine seiner Kühe hatte in der Nacht Zwillinge geboren. Für Müller steht fest, wer die Tiere so zugerichtet hat: „Das war zu 100 Prozent ein Wolf.“
Der Wolf – der ist im Allgäu gerade ein heikles Thema. Eines, das hochemotional diskutiert wird. Und eines, das spaltet. Da sind die Menschen, die sich freuen, dass das einst in Deutschland ausgestorbene Tier wieder da ist. Und da sind die, die es am liebsten einfach abschießen würden. Der Grund für all den Zwist in der beschaulichen Alpenidylle sind fünf tote Kälbchen, die innerhalb weniger Tage im Oberallgäu entdeckt wurden. Unter den Bauern geht seither die Angst um, viele holen ihre Rinder von der Weide und stellen sie in den Stall. Und das, obwohl bislang nicht geklärt ist, ob es tatsächlich ein Wolf war.
Eine DNA-Analyse soll klären, ob ein Wolf die Kälber gerissen hat
Wie die Tiere genau gestorben sind, das klären derzeit Experten. Eine erste Bewertung des Bayerischen Landesamtes für Umwelt gibt es schon: Bei zwei Kälbchen sei nicht auszuschließen, dass sie von einem Wolf gerissen wurden. Bei den beiden Tieren von Konrad Müller käme auch eine Totgeburt infrage – die Kälber könnten danach von einem Fuchs angefressen worden sein. Bei einem Tier steht ein Zwischenergebnis aus. „Die bisher vorliegenden Indizien lassen noch keine endgültige Bewertung zu und deuten auch nicht zwingend auf einen Wolf hin. Insbesondere fehlen noch die Ergebnisse der genetischen Analytik, die in der Regel etwa 14 Tage in Anspruch nimmt“, teilt das Landesamt mit.
Im gesamten Allgäu konnte das Landesamt für Umwelt bisher nur zwei Wölfe nachweisen. Weit häufiger stellte sich der Verdacht als falsch heraus, wie die Karte zeigt.
Auch am toten Kalb von Margot Gebhart wurden solche Proben genommen. Gebhart, kurze blonde Haare, weißes Top, sonnengebräunte Haut, sitzt auf der Terrasse vor ihrem Haus in Wertach. Im Gras döst Hofhund Vroni. Die Bäuerin holt ihr Handy, öffnet das Fotoverzeichnis und blättert ein paar Tage zurück. Dann klickt sie auf ein Foto, das das ausgeweidete Kalb zeigt, das in der ersten Augustwoche gefunden wurde. „Ich vermute, dass es am frühen Morgen gerissen wurde. Eine Joggerin war gegen halb sechs unterwegs und hat gesagt, dass sie einen Wolf gesehen hat.“
In ihrem Kühlschrank lagert eine Rippe mit einem Zahnabdruck
Gebhart zweifelt nicht daran, dass das vier Monate alte Kalb einem Wolf zum Opfer fiel. Obwohl Proben genommen wurden, hat auch sie ein paar Beweisstücke aufbewahrt. „In meinem Kühlschrank lagert eine Rippe mit einem Zahnabdruck. Schwarz-weiße Haare sind auch dabei, das sind eindeutig Wolfshaare“, sagt sie. Auf die Frage, warum sie eigene Proben genommen hat, zuckt sie nur mit den Schultern und sagt: „Zur Sicherheit.“ Ein anderer Landwirt, dessen Tiere in der Nähe von Margot Gebharts Wiese grasen, wird da schon deutlicher: „Die Institute sind doch alle pro Wolf. Da wird mit Absicht nichts gefunden.“
Seit 2006 gibt es wieder Wölfe in Bayern, nachdem sie mehr als ein Jahrhundert lang verschwunden waren. Abgeschossen. Ausgerottet. Mit den Tieren, so scheint es, wenn man mit den Bauern im Allgäu spricht, ist auch die Angst wieder da. Und mit ihr leben die alten Mythen auf, das Raunen in stickigen Wirtshausstuben, die Geschichten der Dorfältesten, die Rotkäppchen-Mär vom bösen Wolf.
Tatsächlich stehen kleine Mädchen mit roten Käppchen nicht auf der Speisekarte eines Wolfs - und auch Geißlein machen nur einen sehr kleinen Teil der Beute aus. Wovon sich Wölfe hauptsächlich ernähren zeigt die Bildergalerie.
Nicht nur die Landwirte sind in Sorge. Es gibt sogar Gemeinden, wo sich Kindergartengruppen nicht mehr in den Wald trauen – dabei gab es keinen einzigen Angriff auf einen Menschen, seitdem die Tiere wieder in Deutschland unterwegs sind. Trotzdem hat der Wolf ein großes Imageproblem. Es ist so massiv, dass ihm viele Menschen an den Pelz wollen und fordern, seinen strengen Schutzstatus aufzuheben.
Für den Wolfsexperten Andreas von Lindeiner wäre das eine Katastrophe. „Man darf den Schutzstatus nicht infrage stellen“, sagt er. Denn in Deutschland sei die Population noch in keinem „günstigen Erhaltungszustand“. Von Lindeiner ist Biologe, Artenschutzreferent beim Bayerischen Landesbund für Vogelschutz und Mitglied in der Arbeitsgruppe „Große Beutegreifer“, die zu Zeiten von Problembär Bruno gegründet wurde. Mit Spannung hat er beobachtet, wie sich der Wolf wieder in Deutschland angesiedelt hat. „Es ist eine gewisse Faszination da, wenn man sieht, wie sich eine Art langsam wieder ihren Raum zurückerobert.“
Wie gefährlich der Wolf für die Landwirtschaft ist? Von Lindeiner sagt: „Es ist nachvollziehbar, dass kein Weidetierhalter gerne den Anblick eines halb angefressenen Schafes oder Kalbes haben möchte. Aber der wirtschaftliche Schaden durch die wenigen Wölfe, die derzeit Bayern bevölkern, ist gegenüber der allseits akzeptierten Mortalität durch welche Faktoren auch immer verschwindend gering.“ Er meint damit, dass Tiere in den Bergen abstürzen, tot geboren werden oder wegen Krankheiten oder Verletzungen geschlachtet werden.
Wie viele Nutztiere in Deutschland tatsächlich von Wölfen angegriffen wurden, stellt die Grafik für das Jahr 2016 dar. Dabei wurden sowohl getötete, als auch verletzte Tiere erfasst.
Dass sich der wirtschaftliche Schaden in Grenzen halte, zeige sich auch daran, dass die Zahl der Entschädigungsfälle – für ein vom Wolf gerissenes Nutztier bekommt ein Bauer Geld – äußerst gering sei. „Ich verstehe nicht, warum die Panik so groß ist.“
Söder: "Die Alm ist bislang auch ohne Wolf ausgekommen."
Von Lindeiner glaubt, dass es die Landwirte am meisten stört, dass sie ihre Haltungsbedingungen umstellen müssen. Wie wichtig der richtige Schutz ist, zeige ein Fall aus dem Schwarzwald, wo im Frühling mehr als 40 Schafe bei einer Wolfsattacke gerissen wurden. „Das lag auch am Dilettantismus des Schafhalters. Die Herde war nicht richtig umzäunt.“
So schützen Sie Ihre Tiere vor Wölfen
Stromführende Zäune, in etwa 1,30 Meter hoch, bieten einen guten Schutz. Der unterste Draht sollte nicht mehr als 20 oder 30 Zentimeter vom Boden entfernt sein, rät das LfU.
In der Nähe von Bäumen und an Hängen ist laut LfU darauf zu achten, dass Wölfe nicht in das Gehege hinein springen können.
Generell sollte die Weidefläche nah an einer Siedlung und möglichst weit weg vom Waldrand liegen.
Esel und Alpakas können eine Herde ebenfalls vor Wolfsangriffen schützen. Ihr Einsatz erfordert allerdings Fachkenntnis, mahnt die Umweltschutzorganisation WWF.
Herdenschutzhunde bietet laut WWF einen sehr effizienten Schutz gegen Wölfe. Auch sie müssen trainiert werden.
Ein Stall schützt Nutztiere nachts vor Wolfsangriffen.
In Gebieten, in denen sich ein Wolf aufhalten könnte, sollten Hunde auf jeden Fall angeleint sein.
Bei der Diskussion um den Wolf stößt von Lindeiner auch noch etwas sauer auf: das Verhalten der Politik. Aus seiner Sicht sollte die Staatsregierung keine Maßnahmen verkünden, bevor es einen festgezurrten Plan gebe, wie man mit dem Wolf umgehen will. In der CSU aber sieht man das anders. Ministerpräsident Markus Söder sagte vor kurzem auf der Kreuzbergalm bei Schliersee: „Die Alm ist bislang auch ohne Wolf ausgekommen.“
Und Umweltminister Marcel Huber versprach den Bergbauern, dass ab Herbst eine Weidekommission prüfen solle, auf welchen Almen ein Schutz der Weidetiere vor dem Wolf nicht möglich sei – dort könne er dann trotz des strengen Schutzes vergrämt, gefangen oder abgeschossen werden. Ausnahmefälle, in denen ein Wolf getötet werden darf – im Amtsstubendeutsch ist von einer „Entnahme“ die Rede –, gibt es jetzt schon. Die Regelung gilt etwa, wenn der Wolf ein Sicherheitsrisiko für den Menschen darstellt.
Der Mensch ist Todesursache Nummer eins der Wölfe
Doch auch ohne offizielle Abschussgenehmigung ist der Mensch, beziehungsweise sein Auto, Todesursache Nummer eins der Wölfe. Die Grafik zeigt alle Totfunde von Wölfen von Januar bis 10. August 2018 in Deutschland.
Auch Christine Margraf, Artenschutzreferentin beim Bund Naturschutz, sieht dringenden Handlungsbedarf. Denn der im Frühling von der Staatsregierung angekündigte neue „Aktionsplan Wolf“ ist nach wie vor nicht mehr als ein Entwurf. Wann er konkret wird, steht bislang nicht fest. Das Umweltministerium teilte auf Anfrage unserer Zeitung nur mit, dass der Plan noch in diesem Jahr in Kraft gesetzt werden soll.
„Es ist unbedingt nötig, dass sich Umwelt- und Landwirtschaftsministerium endlich durchringen und den ,Aktionsplan Wolf’ verabschieden, damit es Richtlinien für Präventionsmaßnahmen wie Zäune oder Herdenschutzhunde gibt und damit die Bauern wissen, welche Maßnahmen gefördert werden“, sagt Margraf. Sonst werde die Stimmung gegen den Wolf noch weiter aufgeheizt.
Angeberwissen über Wölfe
Der lateinische Name des Wolfs ist Canis lupus lupus.
Die Spitzengeschwindigkeit eines Wolfes liegt bei 45 bis 50 Stundenkilometern. Zum Vergleich: Usain Bolts Weltrekord sind 44,72 Stundenkilometer.
Der Geruchssinn eines Wolfs ist so gut, er kann ein anderes Tier 270 Meter gegen den Wind riechen.
Wölfe haben einen 250 Grad Blickwinkel, Menschen nur einen von 180 Grad.
Im Allgäu ist die Stimmung längst am Brodeln. Die Bauern wünschen sich schleunigst Entscheidungen von der Politik – allerdings andere als die Naturschützer. „Wir können uns nur darauf verlassen, dass der Staat das in die Hand nimmt und die Wölfe zum Abschuss freigibt“, sagt Alfred Enderle, Schwabens Bauernpräsident. Er steht auf einer schmalen Straße, am Fuße von Konrad Müllers Bergwiese. Ein Fernsehteam ist gerade angekommen, um Aufnahmen von den beiden toten Kälbchen zu machen. Enderle blickt hinab ins Tal, über dem an diesem Tag dunkle Wolken hängen.
Er hält kurz inne, dann sagt er: „Wir wollen den Wolf aber nicht ausrotten.“ Man brauche seiner Ansicht nach Regionen, in denen er seinen Lebensraum habe. Dort könne er in einer bestimmten Stückzahl, die aber reguliert werden müsse, leben. „Aber wir brauchen auch Gebiete, wie bei uns im Allgäu, wo die Weidetierhaltung Vorrang hat und wo der Wolf gejagt werden sollte.“ Denn das Raubtier vermehre sich enorm. Alle drei Jahre verdoppele sich der Bestand, sagt Enderle.
Naturschützer: Wolfspopulation in Deutschland wird wachsen
Auch Naturschützer sind sich einig, dass die Wolfspopulation weiter wachsen wird. Bisher gibt es nur in Nordbayern zwei standorttreue Rudel und ein Wolfspaar, alle anderen Tiere sind auf der Durchreise.
Aber wieso kommen die Wölfe überhaupt ins Allgäu?
Eines davon ist vor wenigen Wochen im Landkreis Donau-Ries aufgetaucht. Seither ist der Wolf auch in Nordschwaben Thema. Der Unterschied ist allerdings, dass er seine Spuren dort nicht auf einer Kuhweide hinterlassen hat, sondern auf dem Speicherchip einer Kamera.
Albert Reiner sitzt in seinem Wohnzimmer in Mertingen. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein kleines viereckiges Kästchen in Tarnfarben. Mit so einer Wildtierkamera wurde der Wolf aufgenommen. Als Reiner, der stellvertretende Vorsitzende des Jagdverbandes Donauwörth, das Foto zum ersten Mal sah, war ihm sofort klar, dass das kein großer Hund, sondern ein Wolf ist. „Mir wäre es am liebsten, wenn man ihn bejagen dürfte, wie jedes andere Tier auch“, sagt er. „Aus Vorsicht, damit er nicht überhandnimmt. Er hat keine natürlichen Feinde. Es geht mir um die Artenregulierung.“
Bauer Konrad Müller steht noch immer auf seiner Wiese am Grünten. Mittlerweile sind Experten gekommen, die von den toten Kälbern DNA-Proben nehmen, die später im Labor untersucht werden. Müller deutet auf die Mutterkuh, die in der Nacht zuvor die Zwillinge geboren hat, und sagt: „Die nehm’ ich jetzt mit auf meinen Hof.“ Auf der Weide stehen aber noch zwei trächtige Kühe. Wie es mit den beiden weitergeht, das kann Müller im Moment nicht sagen. Bevor er sich umdreht und in seinen grünen Gummistiefeln den steilen Berghang hinunterstapft, schüttelt er frustriert den Kopf. Dann blickt er noch einmal auf den Boden. Auf den Kalbskopf, der neben ihm im hohen Gras liegt.