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Ärztemangel: Gesucht: ein neuer Herr Doktor

Ärztemangel

Gesucht: ein neuer Herr Doktor

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    Am Tag, als Marxheim seine Hausarztpraxis verlor: Patienten von Doktor Peter Thrul und Paul Hoffer haben neben dem Eingang einen Abschiedsgruß an die Garage gehängt. Das war vor etwa vier Wochen. Seitdem ist die Praxistür verschlossen. Einen Nachfolger gibt es nicht.
    Am Tag, als Marxheim seine Hausarztpraxis verlor: Patienten von Doktor Peter Thrul und Paul Hoffer haben neben dem Eingang einen Abschiedsgruß an die Garage gehängt. Das war vor etwa vier Wochen. Seitdem ist die Praxistür verschlossen. Einen Nachfolger gibt es nicht. Foto: privat

    Dies ist die Geschichte einer Revolution. „Bloß“, sagt Peter Thrul, „es merkt keiner.“ Vielmehr: Keiner merkt die Tragweite dessen, was hier passiert. Dass die Post zu ist und der Tante-Emma-Laden und die Autowerkstatt, das schon. Aber nicht, was dies bedeutet. „Alles weg“, beendet Thrul seine Aufzählung. „Und jetzt sind eben wir weg.“ Marxheim, 15 Kilometer östlich von Donauwörth, 2500 Einwohner, acht Ortsteile, hat seit vier Wochen keinen Arzt mehr.

    Bürgermeister Alois Schiegg wird später berichten, dass es wenigstens noch den Edeka gibt, drüben im Ortsteil Gansheim, oder den Dorfladen im Behindertenwerk in Schweinspoint. Die drei Bäcker, die aus dem Auto heraus Semmeln verkaufen. Und hätte das Ganze auch eine humorvolle Seite, könnte man immer noch auf die sieben Freiwilligen Feuerwehren verweisen.

    Für Nachwuchskräfte ist die Allgemeinmedizin offenbar nicht mehr attraktiv

    Aber Doktor Peter Thrul findet das alles nicht lustig. Die „Landflucht“ nicht, wie er das nennt. Das Problem mit den Hausärzten nicht. Und auch nicht, dass von seiner Praxis kaum mehr übrig geblieben ist als der Schreibtisch im Behandlungszimmer und ein Computer auf dem Fußboden, dort, wo einmal die Anmeldung war. Als er seinen Besucher durch die leeren Räume führt, sagt er: „Es ist ein Jammer. Schauen Sie besser nicht so genau hin.“

    Dies ist auch eine Geschichte über die angesehensten Menschen im Land. Jedes Jahr fragt das Meinungsforschungsinstitut Allensbach die Deutschen danach, welchem Beruf sie den größten Respekt entgegenbringen. Und jedes Mal steht der Arzt ganz oben. Das ist der erste Punkt, den es festzuhalten gilt.

    Der zweite: Es gibt hierzulande so viele Ärzte wie noch nie. 2013 waren bundesweit 357 000 Mediziner tätig, 2,5 Prozent mehr als im Vorjahr.

    Da ist noch ein dritter Punkt, und der macht das Ganze so kompliziert: In den kommenden Jahren gehen tausende Hausärzte auf dem Land in Ruhestand – und immer weniger Nachwuchskräfte sind bereit, sie zu ersetzen. Auch, weil ihnen die Allgemeinmedizin gegenüber anderen Facharztrichtungen offenbar nicht attraktiv genug erscheint.

    Als Doktor Thrul seine Vergangenheit hinter der Praxistüre weggesperrt hat, erzählt er seine Geschichte, 150 Meter weiter im Garten seines Wohnhauses unter einem prächtigen Nussbaum. Über 30 Jahre hat er zusammen mit seinem Studienkollegen Paul Hoffer die Praxis mitten im Wohngebiet geführt. Einer hielt immer Sprechstunde, während der andere auf Hausbesuch war. Sie verarzteten kleine und große Blessuren, verschrieben Pillen, hörten zu, scherzten und spendeten Trost. Wochentags wie am Wochenende, morgens um neun genauso wie spät in der Nacht. Generationen von Familien füllten die Patientenakten. Thrul führte ein Leben, über das er heute sagt: „Es ist mir nichts abgegangen.“

    Auch wenn zum Schluss der Frust am Lebenswerk nagte. Die nervenaufreibende Bürokratie, das Brüten darüber, was man bei welcher Krankenkasse wie abrechnen muss. Und dann wollten die Kassen noch 21 000 Euro zurück. Die Mediziner hätten zu viel Medikamente verschrieben, hieß es. „Ein Kreuz, das mit dieser Budgetierung“, sagt er. Als der Vorwurf später vom Tisch war, hatten die beiden schon den Schlussstrich gezogen. Thrul mit 65, Hoffer mit 67. Schweren Herzens hatten sie ihren fünf Angestellten gekündigt und die Dinge geregelt. Nur eine Sache nicht: die mit dem Nachfolger.

    „Als Arzt muss man auch Unternehmer sein. Immer weniger wollen das.“

    Thrul, grauer Vollbart, Jeans, kariertes Hemd, schenkt sich Mineralwasser nach. Die Geschichte über den Kampf um einen neuen Arzt für Marxheim ist lang. Und nichts anderes als ein Kampf ist es. Sein Sohn hat zwar Medizin studiert, macht aber erst seinen Facharzt. Das dauert ein paar Jahre. Ob er Allgemeinmediziner wird, ist ohnehin offen. „Ich will ihn nicht beeinflussen.“ Das also war von vornherein keine Option.

    Es gab zwei andere. Erst versuchte er, einer jungen Ärztin und einem jungen Kollegen die Gemeinschaftspraxis schmackhaft zu machen. Ohne Erfolg. Ein zweiter Anlauf: wieder die Frau, nun zusammen mit einer Kollegin. Wieder eine Absage.

    „Ich kann es verstehen“, sagt Thrul. „Gleichzeitig aber auch nicht.“ Er zählt auf: „Der Patientenstamm, die Dankbarkeit der Leute, ich hätte sie unterstützt, Bereitschaftsdienste gemacht.“ Thrul tut sich schwer damit, dass junge Kollegen sein Arbeitsleben als offenkundig nicht nachahmenswert empfinden. Ein Leben, in dem sich das Private seinen Platz erobern muss. Das Mut erfordert. „Als Arzt muss man auch Unternehmer sein. Immer weniger wollen das.“ Dass die Verdienstmöglichkeiten zu schlecht seien, kann sich Thrul nicht vorstellen. „Wir sollten das Rad nicht zurückdrehen. Aber ich sage auch: Ich konnte ein Haus bauen und meine drei Kinder studieren lassen. Mir geht es gut.“

    Die Zahl der Interessenten an einem Job als Landarzt: Null

    Der Bürgermeister sagt, er habe angeboten, dass die Gemeinde eine neue Praxis baut. Die alte ist doch merklich in die Jahre gekommen. Über einen staatlichen Fördertopf wäre Geld für die Ausstattung geflossen. Und jetzt? Alois Schiegg fragt: „Was soll ich machen?“

    Es ist ja nicht so, dass Marxheim allein mit seinem Problem dasteht. In anderen Gemeinden kennt man das auch. Man ahnt zumindest, dass da ein Problem auf einen zukommt. Jüngst machte die Geschichte eines Landarztes aus Nordbayern die Runde. Der war längst im Ruhestand. Dann erkrankte sein Nachfolger und gab auf. Zahl der Interessenten: null. Jetzt behandelt der alte Herr wieder. Mit 83 Jahren.

    Doktor Max Kaplan nennt so jemanden einen „typischen Einzelkämpfer“. Der Prototyp eines Landarztes, wie man ihn sich irgendwie immer vorgestellt hat. Und wie es ihn womöglich bald nicht mehr geben wird. Sagt Kaplan.

    Die Vorsstellung rund um die Uhr zur Verfügung zu stehen, entspricht nicht den heutigen Lebensvorstellungen

    Er sitzt an seinem Schreibtisch in Pfaffenhausen im Unterallgäu. 61 Jahre alt, graues volles Haar, ein Mann, der oft Anzug trägt. Kaplan ist Präsident der bayerischen Landesärztekammer und Vizepräsident der Bundesärztekammer; wenn man so will, einer der Chef-Lobbyisten seiner Zunft. Ein- bis zweimal die Woche tauscht er den Anzug mit dem Arztkittel. Dann ist er wieder selbst Landarzt, zu Hause in seiner Marktgemeinde, die nur unwesentlich kleiner ist als Marxheim. So einer muss doch wissen, was schiefläuft im System.

    Punkt eins: Kaplan sagt, die Vorstellung vom Leben eines Arztes, der rund um die Uhr zur Verfügung steht, entspreche nicht mehr den heutigen Lebensvorstellungen. „Wer den ärztlichen Beruf ergreift, sieht diesen als Profession und ist äußerst engagiert, aber denkt auch an Familie und Freizeit.“

    Punkt zwei: Der Beruf wird weiblicher. 62 Prozent der Erstsemester im Fach Humanmedizin sind heute Frauen. „Kommt dann das Thema Familie auf, streben immer mehr Ärztinnen und Ärzte Teilzeit an.“

    Dies – Punkt drei – lässt sich mit der Arbeit als allein verantwortlicher Hausarzt kaum vereinbaren. Der mit Notfällen konfrontiert wird, mit Bereitschaftsdiensten und viel Bürokratie.

    Noch ist Bayern bei der hausärztlichen Versorgung „relativ gut aufgestellt“

    Kaplan sagt: „Ich verstehe diesen Anspruch, diesen Lebensentwurf der jungen Kollegen.“ Der Arztberuf sei voller Empathie und Leidenschaft. „Aber die junge Generation sagt: Schluss, bis hierhin und nicht weiter.“ Noch sei Bayern bei der hausärztlichen Versorgung „relativ gut aufgestellt“. Aber: „Schon heute kann pro Woche ein frei werdender Hausarztsitz in der ländlichen Region nicht nachbesetzt werden.“

    Bleibt die Frage aller Fragen: Wie gewinnt man trotzdem mehr Ärzte für die Allgemeinmedizin – und dann für ein Leben auf dem Land?

    Hausarztmangel - wie schlimm ist es wirklich?

    Ausgangslage: Seit gut zehn Jahren geistert der Begriff „Ärztemangel“ durchs Land. Meist wird er in Zusammenhang mit Allgemeinmedizinern diskutiert. Unbestritten ist: Mit 3,4 niedergelassenen Ärzten (alle Fachrichtungen) je 1000 Einwohner steht Deutschland sehr gut da. Der Durchschnitt aller OECD-Länder beträgt 3,0. Auch steigt die Gesamtzahl der Ärzte – in den vergangenen zehn Jahren um 53 000 auf zuletzt 357 000. Einen Rückgang gab es 2013 nur bei Allgemeinmedizinern – um 0,13 Prozent.

    Die Lage im Freistaat: Eine Übersichtskarte der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns zur hausärztlichen Versorgung zeigt, dass weite Teile des Freistaats derzeit gut oder gar überversorgt sind. Sie weist aber auch rund 125 freie Stellen aus. Allein in Ingolstadt sind es 13,5, in Schwaben insgesamt 17,5, davon vier im Raum Schwabmünchen. 2013 waren bayernweit 7450 Allgemeinmediziner tätig, rund 150 weniger als im Vorjahr. In Schwaben waren es 1065 (minus 23), in Oberbayern 1641 (minus 26).

    Das sagen die Ärzte: Die Bundesärztekammer verweist auf das binnen zehn Jahren rapide gestiegene Durchschnittsalter der niedergelassenen Mediziner von knapp 46,7 auf 53,1 Jahre. Außerdem geht die Zahl der Ruheständler nach oben, zuletzt um 3,8 Prozent auf 72 540. Schon 2010 legte die Ärzteschaft eine Studie vor, wonach viele Hausärzte in ländlichen Gebieten keine Nachfolger mehr finden. Grund für diese Entwicklung seien unter anderem der wachsende Frauenanteil, der damit verbundene Wunsch nach mehr Teilzeitarbeit und die Tatsache, dass etwa zwölf Prozent der Universitäts-Absolventen nicht in Praxen oder an Kliniken arbeiten, sondern beispielsweise in die Forschung gehen.

    Das sagen die Krankenkassen: Statistisch betrachtet gibt es in Deutschland mehr Ärzte, als für die Versorgung nötig wären, sagt Florian Lanz, Sprecher des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Allerdings gebe es Regionen im Land, wo es „punktuell“ zu Problemen komme. Im Klartext: Es gibt mehr als genügend Ärzte, sie sind nur ungleich verteilt. Das zeigen auch die Zahlen der Bundesärztekammer. In Hamburg kommen 151 Einwohner auf einen Arzt, in Bayern 217 und in Brandenburg schon 276. GKV-Mann Lanz sieht ein „gravierendes Problem“ darin, dass die Hausärzte auch innerhalb der Ärzteschaft „keine große Unterstützung finden“. Die universitäre Ausbildung sei zu sehr auf die anderen Fachärzte konzentriert.

    Das sagen Wirtschaftswissenschaftler: Das Institut der deutschen Wirtschaft kommt zu dem Ergebnis, dass in den nächsten Jahren zwar 6600 Ärzte pro Jahr aus dem Berufsleben ausscheiden. Diesen stünden aber jährlich etwa 10 000 Uni-Absolventen gegenüber. Von einem akuten Ärztemangel könne also keine Rede sein. Aufgrund der demografischen Entwicklung könnte jedoch ab dem Jahr 2025 ein Engpass entstehen. Dann müssten jährlich 9500 Ärzte ersetzt werden. Außerdem würden dann durch die Alterung der Gesellschaft mehr Ärzte benötigt, weil ein größerer Behandlungsbedarf bestehe

    Eine Möglichkeit: staatliche Unterstützung. Bundesweit wird beispielsweise die Beschäftigung eines angehenden Allgemeinmediziners in Praxen finanziell gefördert. Hinter dem Projekt stehen unter anderem Kassenärztliche Bundesvereinigung, Bundesärztekammer und Gesetzliche Krankenversicherung. In Bayern können Hausärzte bis zu 60 000 Euro für ihre Praxis erhalten, wenn sie sich in Gemeinden mit weniger als 20 000 Einwohnern niederlassen. Die Region darf nur nicht überversorgt sein. In Schwaben haben bislang neun Praxen davon profitiert. Darüber hinaus erhalten derzeit 55 Studenten ein Stipendium in Höhe von monatlich 300 Euro. „Dafür sind sie bereit, ihre Facharztweiterbildung im ländlichen Raum zu absolvieren und anschließend für mindestens fünf Jahre auf dem Land tätig zu sein“, sagt Gesundheitsministerin Melanie Huml.

    Patienten müssen der Vorstellung verabschieden, dass es in jeder Gemeinde einen Hausarzt gibt

    Ärztefunktionär Kaplan denkt in erster Linie an die Einrichtung regionaler Versorgungszentren. Er sagt: „Patienten müssen sich allein wegen der demografischen Entwicklung von der Vorstellung verabschieden, dass es künftig in jeder Gemeinde einen Hausarzt geben wird.“ Warum, fragt Kaplan, also nicht etwa für eine Verwaltungsgemeinschaft eine Versorgungseinheit mit vier, fünf Ärzten gründen? „Sie könnten sich bei Hausbesuchen und Bereitschaftsdiensten abwechseln, auch könnte der eine oder andere in Teilzeit arbeiten.“ Kaplan macht das selbst so. In seiner Praxis arbeiten derzeit fünf Ärzte. Eine Kollegin soll mal seine Nachfolgerin werden. „Für solche Zentren müssten aber auch die Strukturen vor Ort mitwachsen“, sagt Kaplan, „die Kinderbetreuung etwa und der öffentliche Nahverkehr bis hin zur Einrichtung spezieller Fahrdienste.“

    Darüber wird Marxheims Bürgermeister Schiegg später gequält lächeln: „Wenn das so einfach wäre. Die Buslinienbetreiber dampfen ja eher ihr Angebot ein, weil sich manche Zeiten nicht mehr lohnen.“

    Im Medizin-Studium sollten soziale Fähigkeiten eine größere Rolle spielen

    Kaplan stellt sich noch mehr vor. Das Auswahlverfahren von Studenten müsse offener werden, soziale Fähigkeiten müssten eine größere Rolle spielen. Das Studium selbst benötige mehr Praxisbezug. Und: „Der Bereitschaftsdienst muss auf möglichst viele Schultern gleichmäßig verteilt werden. Dazu müssen die Bereitschaftsdienst-Zonen deutlich vergrößert werden, um die Belastungen gerechter zu verteilen.“

    Und wenn das alles nichts bringt? Kann man Ärzte nicht zwingen, eine Zeit lang auf dem Land zu arbeiten? „Also bitte“, entfährt es ihm, „das wäre ja wie Landverschickung“, der „denkbar schlechteste Weg.“

    100 Kilometer weiter nördlich sitzt Doktor Thrul unter seinem Nussbaum und sagt: „Eine Arztpraxis im Dorf, das ist ein Lebensort. Dort treffen sich Menschen. Und das soll bald alles vorbei sein?“ Thrul wird noch eine Zeit lang die Behinderten in Schweinspoint betreuen, im Auftrag eines Kollegen aus dem benachbarten Rain. „Sie sind mir ans Herz gewachsen, ich will dort nicht so einfach aufhören.“

    Am Tag, als Thrul und Hoffer die Praxis zusperrten, haben ihre Patienten ein Leintuch an die Garage gehängt. Darauf steht: „Ihr fehlt uns, heute – morgen – immer! Vergelt’s Gott für alles!“

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