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75 Jahre Grundgesetz: Nur Bayern stimmte 1949 dagegen - und war trotzdem dabei

75 Jahre Grundgesetz

Warum ausgerechnet Bayern Nein zum Grundgesetz gesagt hat

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    Auf dem Boden des Rechtsstaats, aber mit einem eigenen Kopf: Die Bayern stemmten sich 1949 dagegen, ihre Eigenständigkeit zugunsten der Bundesrepublik einzuschränken.
    Auf dem Boden des Rechtsstaats, aber mit einem eigenen Kopf: Die Bayern stemmten sich 1949 dagegen, ihre Eigenständigkeit zugunsten der Bundesrepublik einzuschränken. Foto: wolfilser, zoonar.com/imago

    Auf dem Nockherberg in München wird bekanntlich immer nur die einzig wirkliche Wahrheit verkündet. Weil das Starkbier den Bayern aus der Seele sprechen lässt. Vor einigen Jahren zum Beispiel verriet Horst Seehofer dort sein ganz persönliches Grundgesetz. "Es kommt schon vor, dass ich mal für etwas dagegen bin. Dann plötzlich bin ich wieder gegen was dafür", sang der damalige Landesvater. Also ganz genau genommen natürlich nicht er selbst, sondern nur ein Schauspieler. Aber wenn man sich die Geschichte des Freistaats so anschaut, dann war das schon recht nah dran am wirklich wahren Leben. Man kann sogar durchaus zur Erkenntnis kommen, dass es mit dem bayerischen Eigensinn schon anfing, bevor es das Deutschland, wie wir es kennen, überhaupt gab. 

    Auf einer Insel im bayerischen Meer, wie man den Chiemsee ganz bescheiden nennt, trifft sich am 10. August 1948 eine Gruppe Anzug tragender Männer mit dem Auftrag, für das von Nazi-Wahnsinn und Krieg zerstörte Land ein neues Gesetz zu erarbeiten – als Voraussetzung für die Gründung der Bundesrepublik. Eine eher undankbare Aufgabe, die ihnen die Ministerpräsidenten auf Weisung der westlichen Besatzungsmächte da mitgegeben haben. 

    Schließlich geht es für die Vertreter der Bundesländer um eine Frage, die bis heute verlässlich den Puls steigen lässt: Wie viel Macht bekommt der neue Bundesstaat und wie viel Eigenständigkeit behalten die Länder? Und weil der Bayer, wie eingangs erwähnt, seit jeher seinen eigenen Kopf hat, kann man sich leicht ausmalen, dass die Gastgeber dieses Verfassungskonvents vor allem Zweiteres im Sinn haben. 

    Ministerpräsident Hans Ehard lud an einen "ruhigen Ort in Bayern" ein

    Mit der Einladung von Ministerpräsident Hans Ehard (CSU) an einen "ruhigen Ort in Bayern" dürften also ein, zwei Hintergedanken verbunden gewesen sein. Die Insel Herrenchiemsee, auf der sich Märchenkönig Ludwig II. kurz vor seinem Tod ein prunkvolles Schloss mit einem Touch von Versailles erbauen ließ, war perfekt für die heiklen Beratungen, findet die Historikerin Uta Piereth. Sie arbeitet für die bayerische Schlösserverwaltung und hat eine Ausstellung am Originalschauplatz mitgestaltet. "Wo könnte man besser in Klausur gehen und sich zum Nachdenken zurückziehen als auf einer abgeschiedenen Insel? Es war schon wichtig, dass die Herren da ihre Ruhe hatten, denn es ging ja wirklich um viel", sagt Piereth. 

    Tatsächlich ist die Stimmung in jenem Sommer 1948 trotz der im wahrsten Sinne staatstragenden Aufgabe halbwegs entspannt. Die Väter der Verfassung sind sich nur nicht ganz einig, ob nun die Mückenplage, die den Chiemsee in diesen Tagen heimsucht, oder doch die wenigen anwesenden Journalisten lästiger sind – abgesehen davon herrscht konstruktive Arbeitsatmosphäre. Das mag womöglich auch an den zugeteilten flankierenden Maßnahmen liegen, die damals keineswegs selbstverständlich sind: Jedem Teilnehmer stehen, das ist schriftlich festgehalten, pro Tag ein Liter "Spezialbier", ein halber Liter Wein sowie wahlweise drei Zigarren oder zwölf Zigaretten zu. Und so muss man sich den engen, holzvertäfelten Tagungsraum in einem Kloster, das einmal Augustiner-Mönche bewohnt hatten, durchgehend in Rauchschwaden eingehüllt vorstellen. 

    In diesem eher spartanischen Raum im Augustiner-Chorherrenstift auf der Insel Herrenchiemsee tagte im Sommer 1948 der Verfassungskonvent.
    In diesem eher spartanischen Raum im Augustiner-Chorherrenstift auf der Insel Herrenchiemsee tagte im Sommer 1948 der Verfassungskonvent. Foto: Michael Stifter

    Dabei gibt es im selben Gebäude durchaus festlichere, lichtdurchflutete Säle, die mehr hergemacht hätten. Ganz zu schweigen von Ludwigs prächtigem Königsschloss, das bloß ein paar Minuten zu Fuß entfernt liegt. Nur: Die Wand- und Deckengemälde in den repräsentativen Räumen stehen für ein altes, feudalistisches System. Genau das soll die neue demokratische Verfassung ja eben nicht symbolisieren. Vollkornbrot statt Festmahl lautet die Devise. "So kann man davon ausgehen, dass der vergleichsweise spartanische Raum durchaus bewusst gewählt worden war", sagt Piereth. 

    Am Verfassungskonvent nahmen ausschließlich Männer teil

    Zwei Wochen lang debattieren die 30 Herren, wie die neue Verfassung des noch zu gründenden Bundesstaates aussehen soll. Auf langen Spaziergängen durch den Wald und die Schlossanlagen setzen sie ihre Diskussionen fort. Wer sich heute in der auf einem Hügel gelegenen Schlosswirtschaft einen Chiemseehecht samt Weißbier bestellt und den Blick in die Ferne, auf Berggipfel und Wasser, schweifen lässt, kann zumindest erahnen, wie damals die Gedanken dahinflossen – über dieses künftige Deutschland, das schon so nah und doch noch so fern war, über das Grauen des Krieges und die Nazi-Herrschaft, darüber, wie die Verfassung verhindern kann, dass sich eine solche Katastrophe wiederholt. 

    Und natürlich die nicht laut ausgesprochenen Gedanken der bayerischen Teilnehmer, die darum kreisten, wie man in so einer Bundesrepublik mit Preiß'n, Rheinländern und Hessen mittendrin, aber doch nicht so ganz dabei sein könnte. Die da oben sollten sich jedenfalls nicht zu viel in bayerische Angelegenheiten einmischen. Wäre Markus Söder damals schon dabei gewesen, er hätte seine helle Freude gehabt. Fehlendes Bayern-Gen und so. 

    Der Kontakt zur Außenwelt ist in diesen Augusttagen 1948 begrenzt, es gibt nur zwei Telefone auf der Insel, an denen man Schlange stehen muss. Immerhin: Die Abgeschiedenheit macht produktiv. Sehr viel von dem, was am Chiemsee in nur zwei Wochen zu Papier gebracht wird, findet später tatsächlich seinen Weg ins Grundgesetz, das am 23. Mai 1949 beschlossen wird. 

    Die Gleichberechtigung von Mann und Frau kam erst nachträglich ins Grundgesetz

    Ein paar Punkte werden trotzdem nachjustiert. Was etwa das Verhältnis von Mann und Frau angeht, ist Herrenchiemsee durchaus wörtlich zu nehmen. Die Herren auf der Insel halten in ihrem Abschlusspapier zwar fest, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich seien. Den Zusatz in Artikel 3 "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" fügt allerdings erst später der Parlamentarische Rat bei der finalen Ausarbeitung des Grundgesetzes hinzu. Hier sind wenigstens vier Frauen (bei 61 Männern) beteiligt, die sich letztlich gegen veritablen Widerstand durchsetzen. 

    Artikel 3 des Grundgesetzes legt die Gleichheit vor dem Gesetz fest.
    Artikel 3 des Grundgesetzes legt die Gleichheit vor dem Gesetz fest. Foto: Jens Kalaene, dpa

    Auf Herrenchiemsee wird eher über die Befugnisse von Bund und Ländern oder Finanzfragen gestritten. Vor allem Bayern versucht hier, so viel Selbstständigkeit wie möglich herauszuschlagen. Und nutzt seinen Heimvorteil. Chef des Verfassungskonvents ist schließlich der Leiter der Bayerischen Staatskanzlei, Anton Pfeiffer. Ein fraglos honoriger Mann. Aber auch einer, der weiß, was er will. 

    Pfeiffer ist es, der am Ende die Feder führt, als es um die Schlussfassung des Entwurfes geht. Und verblüffenderweise finden sich darin manche Akzente wieder, die in den Beratungen nicht unbedingt mehrheitsfähig gewesen waren. Haben sich die Bayern den Text etwa ein wenig zurechtgebogen? 

    So weit will die Historikerin Piereth nicht gehen. Aber: "Die bayerische Handschrift war auch in der letzten Überarbeitung des Textes zu spüren. In der Schlussfassung wurde einiges festgehalten, was so in den Protokollen der Gespräche nicht als eindeutiges Votum geäußert worden war. Forderungen nach mehr Eigenständigkeit der Länder wurden stärker akzentuiert."

    Doch wer geglaubt hatte, dass die freiheitsliebenden Bayern damit zufrieden sind, sollte sich täuschen. Denn nicht erst bei Horst Seehofer kam es vor, dass sie mal für etwas dagegen waren. Als das fertige Grundgesetz neun Monate später zur Abstimmung steht, sagt Bayern als einziges Bundesland: Nein. 

    Wer dieses bajuwarische Manöver verstehen will, muss sich nicht nur mit der Seele der Bayern beschäftigen, sondern auch mit den Machtverhältnissen im damaligen Landtag. Die CSU gibt es gerade einmal drei Jahre und dementsprechend wild fliegen die Positionen in der Regierungspartei noch durcheinander, wenn es um die Rolle Bayerns in einem neuen deutschen Bundesstaat geht. 

    Und dann gibt es da auch noch die Bayernpartei, die noch viel rabiater gegen die vermeintlich drohende Fremdbestimmung wettert – und damit bei den Leuten durchaus punkten kann. Wäre Hubert Aiwanger damals schon dabei gewesen, er hätte seine helle Freude gehabt. 

    Mit dem Grundgesetz wurde auch die Bundesrepublik gegründet

    Die CSU jedenfalls steckt in einem Dilemma. Aus taktischen Gründen und wegen ihres Anspruchs, allein bayerische Interessen im Sinn zu haben, muss sie das Grundgesetz ablehnen, an dem die eigenen Leute mitgeschrieben hatten. Doch zugleich will sie nicht riskieren, dass die neue Verfassung tatsächlich scheitert – und womöglich sogar die damit verbundene Gründung der Bundesrepublik. Anarchie für Anfänger quasi. 

    Das Maximilianeum in München ist seit Anfang 1949 Sitz des Bayerischen Landtags.
    Das Maximilianeum in München ist seit Anfang 1949 Sitz des Bayerischen Landtags. Foto: Sven Hoppe, dpa

    Und wie so oft in ihrer späteren Geschichte findet die Partei, von der Franz Josef Strauß einst sagte, die CSU sei immer alles – und notfalls auch das Gegenteil, ein halbwegs gesichtswahrendes Schlupfloch. Am 20. Mai 1949 stimmt der Landtag in München gegen die neue Verfassung – und macht sich zugleich eine scheunentorgroße Hintertür auf. 

    Der Bayerische Landtag stimmte 1949 gegen das Grundgesetz

    "Der Landtag hat das Grundgesetz zwar abgelehnt, er hat aber seine Rechtsverbindlichkeit anerkannt, sofern zwei Drittel der Länder der Westzone dem Grundgesetz zustimmten", erklärt Thomas Schlemmer vom Institut für Zeitgeschichte in einem Beitrag zur Ausstellung auf Herrenchiemsee. Heute würde man sagen: Gratismut. Denn weil diese Mehrheit nie ernsthaft infrage gestanden hatte, war das Risiko marginal. 

    Tatsächlich segnen sämtliche anderen Landtage die neue Verfassung ab. Die Bayern treten also trotz allem der Bundesrepublik bei – indem sie für etwas dagegen waren. 

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