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6. Corona-Welle: Experte Clemens Wendtner warnt

Interview

Corona-Experte Wendtner warnt: "Es entwickelt sich gerade eine sechste Welle"

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    Professor Dr. Clemens Wendtner ist Chefarzt an der München Klinik Schwabing. Dort wurden die ersten deutschen Covid-Patienten behandelt.
    Professor Dr. Clemens Wendtner ist Chefarzt an der München Klinik Schwabing. Dort wurden die ersten deutschen Covid-Patienten behandelt. Foto: Peter Kneffel

    Herr Professor Wendtner, in der München Klinik Schwabing, wo Sie Chefarzt der Infektiologie sind, wurden die ersten deutschen Covid-Patienten behandelt. Sie haben also viel Erfahrung mit dem Virus, das uns nun seit über zwei Jahren plagt. Die Infektionszahlen schießen aktuell regelrecht nach oben. Kommt denn keine Entspannung jetzt im Frühjahr?

    Professor Dr. Clemens Wendtner: Wir haben eine ähnliche Situation wie im März 2021: Auch damals klang im März eine Winterwelle ab und es kam eine Frühjahrswelle, die dann bis etwa Mai aktiv war. Aktuell haben wir so hohe Fallzahlen wie noch nie seit Beginn der Pandemie. Es entwickelt sich gerade eine sechste Welle. Daher können wir in den nächsten Wochen nicht damit rechnen, dass dieses extreme Infektionsgeschehen abrupt endet.

    Ist es die Omikron-Untervariante BA.2, die das Infektionsgeschehen aktuell so antreibt?

    Wendtner: Virologisch gesehen hat die Omikron-Subvariante BA.2 einen gewissen Anteil daran. Wir sehen, dass sie wesentlich infektiöser ist als BA.1. Die hohen Fallzahlen rühren aber auch daher, dass viele Menschen offensichtlich glauben, die Pandemie sei nicht mehr so schlimm und deshalb bei den Schutzmaßnahmen nachlässig sind. Dies wird natürlich auch durch die politischen Diskussionen um Lockerungen befördert. Ich sage aber ganz klar: Corona ist noch nicht vorbei, die Kuh ist noch nicht vom Eis. Man muss jetzt erst einmal einige Wochen bis zum Frühsommer abwarten und sehen, wie sich das Infektionsgeschehen entwickelt. Das kennen wir ja aus den vergangenen beiden Jahren.

    Das heißt, Sie würden an der Maskenpflicht in jedem Fall weiter festhalten?

    Wendtner: Ja, aus infektiologischer Sicht wäre eine Maskenpflicht sinnvoll – und zwar im gesamten öffentlichen Raum, nicht nur in Bussen und Bahnen. Vor allem auch an Schulen wäre eine Maskenpflicht weiter wichtig, aber auch in Geschäften. Ganz besonders nötig ist sie natürlich in Einrichtungen, in denen vulnerable Gruppen beherbergt werden wie etwa in Altenheimen und Kliniken. Bayern hat das Masketragen jetzt zwar etwas verlängert, aber spätestens Anfang April werden die Diskussionen sozusagen zum „Maskenfall“ wieder kommen. Statt diesem ewigen Hin und Her würde ich mir aus medizinischer Sicht klare, verbindliche Leitplanken wünschen. Das heißt: Wir bräuchten eine bundeseinheitliche Maskenpflicht im gesamten öffentlichen Raum. Denn hier auf das freiwillige Verantwortungsbewusstsein zu setzen, ist zwar schön, es überfordert aber auch viele Menschen. Klare, verbindliche Regeln helfen hier besser.

    Die Ansteckungsgefahren wachsen auch mit neuen Varianten. Wie gefährlich ist Deltakron?

    Wendtner: Das ist eine Kombination aus den bekannten Subtypen Delta und Omikron, die nun in Europa und in den USA erstmalig nachgewiesen wurde, auch das RKI hat erste Fälle für Deutschland bestätigt. Man geht davon aus, dass sich Menschen zeitgleich mit Delta und Omikron infiziert hatten und dann genetisches Material aus beiden Viren vermischt wurde, sodass diese Hybridvariante entstand. Prinzipiell könnte man vermuten, dass Deltakron zwei unangenehme Eigenschaften des Virus verbindet, also hochansteckend zu sein wie Omikron und schwere Krankheitsverläufe wie bei Delta induziert. Aber das ist völlig spekulativ, da es noch so wenige Fälle gibt, um hier belastbare Aussagen zu treffen. Ich bin mir sicher, dass wir im Laufe der Pandemie noch weitere Varianten kommen und gehen sehen werden, über deren Gefährlichkeit man natürlich noch nichts sagen kann.

    Neben einer Impfung ist Testen ein wichtiger Weg. Doch die Qualität der Schnelltests scheint höchst unterschiedlich zu sein, auf was kann man sich hier noch verlassen?

    Wendtner: Ja, es gibt leider bei den Antigen-Schnelltests qualitative Unterschiede. Aber was man sicher sagen kann: Ein negatives Ergebnis darf nie als Freischein angesehen werden. Gerade wer Symptome hat, sollte skeptisch bleiben und sich isolieren, auch wenn das Ergebnis der Schnelltests negativ ist. Umgekehrt: Wenn man keine Symptome und ein negatives Testergebnis hat, kann man mit einem gewissen Restrisiko davon ausgehen, dass man auch wirklich negativ ist. Natürlich gibt es Situationen, in denen nur ein PCR-Test Sicherheit bringt. So dürfen bei uns an der Klinik genesene Mitarbeiter nur an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, wenn sie einen negativen PCR-Test haben.

    Wäre es dann aber nicht sinnvoller, die PCR-Tests wieder kostenfrei anzubieten?

    Wendtner: In den letzten Wochen waren die Testkapazitäten eingeschränkt, daher wurden die kostenfreien Tests zurückgefahren. Meines Erachtens sollte ein PCR-Test auch nicht dazu dienen, dass man sich beispielsweise möglichst ungezwungen in einer Skihütte treffen kann. Wenn aber beispielsweise aufgrund des beruflichen Umfelds oder, weil ein Besuch im Altenheim ansteht, ein PCR-Test mehr Sicherheit bringt, sollte er meiner Meinung nach auch wieder kostenfrei werden.

    Wie soll man sich denn nun am besten zu Hause testen – mit einem Abstrich im Rachen oder in der Nase?

    Wendtner: Bei Omikron weiß man, dass die Viruslasten vor allem im Rachenbereich hoch sind, daher würde ich einen tiefen Rachenabstrich immer bevorzugen. Auch ein tiefer Nasenabstrich, wenn er professionell gemacht ist, hat gute Aussagewerte. Angeboten werden ja auch kombinierte Abstriche von Rachen und Nase.

    Sollte man also auch zu Hause Rachen und Nase abstreifen?

    Wendtner: Das kommt auf den Schnelltest an. Manche Kits haben Stäbchen, die nicht so einfach sowohl für die Nase als auch für den Rachen verwendet werden können. Daher rate ich dazu, sich an die Herstellerempfehlungen zu halten und nicht selbst zu experimentieren. Zudem sind die öffentlichen Teststationen mit Fachpersonal meines Erachtens inzwischen umfangreich vorhanden und schnell und unkompliziert zugänglich.

    Viele Menschen haben Covid bereits durchgemacht. Wie steht es bei Genesenen um die Immunität?

    Wendtner: Wir haben deutliche Hinweise, dass gerade jetzt bei Omikron der Immunschutz nach einer Infektion nicht besonders hoch ist. Denn wir haben auch hier an der Klinik Patientinnen und Patienten, die sich mehrmals mit Omikron infiziert haben. Daher wäre es auch ein Trugschluss zu meinen, dass es nun gut wäre, sich sozusagen eine Infektion einmal abzuholen, um dann gegen weitere Infektionen besonders gestählt zu sein, dem ist nicht so. Wir sehen immer wieder, dass man sich auf die Immunität nach einer Infektion nicht verlassen kann und darf.

    Auch wenn man die Infektion mehrmals durchgemacht hat?

    Wendtner: Ich würde mich auf eine Immunität auch nach einer wiederholten Infektion nicht verlassen. Zumal wir immer wieder sehen, dass neue Varianten entstehen. Die oft zitierte Superimmunität ist eher eine Ausnahme, aber nicht gezielt zu erreichen. Der beste Schutz gegen eine Covid-Infektion ist und bleibt eine regelmäßige Impfung. Sie schützt auch am besten vor schweren Verläufen – das Thema darf wirklich nicht in den Hintergrund geraten.

    Gibt es neue Erkenntnisse über weitere Risikofaktoren für eine Infektion?

    Wendtner: Dazu laufen zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen, bei denen auch unsere Klinik mit dabei ist. Und man kann mittlerweile bestimmte genetische Risikoprofile definieren. Aber leider gibt es noch immer nicht den Test, um klar zu sagen, wer per se weniger oder mehr für eine schwere Infektion gefährdet ist. Sicher weiß man, dass ältere Menschen, aber auch Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen, zu denen beispielsweise ein Tumor, aber auch ein schlecht eingestellter Diabetes sowie Übergewicht zählen, ein höheres Risiko haben, schwer zu erkranken. Sie müssen weiter ganz besonders vorsichtig sein.

    Gibt es denn bei den Behandlungsmöglichkeiten Fortschritte?

    Wendtner: Ja, da gibt es Fortschritte. So sind wir gerade in den letzten Wochen bei der medikamentösen Vorbeugung einen erheblichen Schritt weitergekommen. Ich gebe beispielsweise aktuell Leukämiepatienten, die nicht mit Covid infiziert sind, ein Antikörper-Medikament. Es ist das so genannte Evusheld, eine Kombination aus den Antikörpern Tixgevimab und Cilgavimab. Und diese Antikörper verhindern, dass eine Infektion ausbricht. Es handelt sich ja um Patienten, die trotz Impfung aufgrund ihrer Erkrankung keinen Impfschutz aufbauen konnten und die durch diese künstlichen Antikörper gut vor einer Infektion – gerade auch mit Omikron – geschützt werden.

    Und was hilft, wenn ich mich bereits infiziert habe?

    Wendtner: In der sehr frühen Phase bei Infizierten haben wir derzeit mit Sotrovimab einen anderen Antikörper zur Verfügung. Er muss allerdings innerhalb der ersten Woche nach Symptombeginn gegeben werden. Für diese Infusion muss der Patient in die Klinik kommen, es sei denn, dass der Hausarzt einen abgeschirmten Bereich für den infektiösen Patienten in der Praxis vorhält oder sogar einen Hausbesuch abstattet, sodass sich kein anderer Patient infizieren kann. Ein anderes Medikament ist Paxlovid. Diese Tablettenkombination aus Nirmatrelvir und Ritonavir wird häufiger rezeptiert, wenn bei einem Infizierten ein schwerer Verlauf einer Infektion zu befürchten ist. Der große Vorteil ist, dass diese Tabletten unkompliziert zu Hause geschluckt werden können, ohne dass eine Klinikstruktur vorgehalten werden muss. Natürlich gibt es ein paar Nebenwirkungen, insbesondere Interaktionen mit anderen Medikamenten, über die der Patient vorher aufgeklärt werden muss. Das kann aber per Telefon oder Videoschalte erfolgen, sodass der Infizierte nicht in die Praxis oder Klinik kommen muss. Ist eine schwere Covid-Infektion aber bereits ausgebrochen und der Erkrankte muss sogar auf die Intensivstation, dann muss man leider sagen, dass die Erkrankung ihren Schrecken nach wie vor nicht verloren hat: Noch immer verlässt von drei schwer erkrankten Covid-Patienten im Schnitt einer nicht lebend die Intensivstation. Auch aktuell haben wir hier in der München Klinik eine zweistellige Zahl an Covid-Patienten auf der Intensivstation, die beatmet werden müssen.

    Das sind alte Menschen oder Menschen mit Vorerkrankungen, oder?

    Wendtner: Wir haben durchaus auch jüngere Patienten. Denn wenn sie nicht geimpft sind, haben sie auch jetzt bei der Omikron-Variante ein hohes Risiko für einen schweren Infektionsverlauf. Auch wenn Omikron mehr die Normalstationen füllt, darf man keinesfalls den „milden Verlauf“ mit „harmlos“ gleichsetzen.

    Viele lassen sich jetzt auch zum vierten Mal impfen, wem raten Sie dazu?

    Wendtner: Es gibt ja keine generelle Empfehlung zu einer vierten Impfung für die Allgemeinbevölkerung. Die Stiko hat diese vierte Impfung drei Monate nach der dritten Impfung für eine bestimmte Risikogruppe empfohlen: Das sind Menschen ab dem 70. Lebensjahr, immunsupprimierte Patienten und Betreute in Pflegeeinrichtungen. Darüber hinaus können sich Menschen, die mit vulnerablen Personen arbeiten, also beispielsweise Beschäftigte in Kliniken und Altenpflegeheimen, sechs Monate nach Drittimpfung erneut boostern lassen.

    Die vierte Impfung ist also ein noch besserer Schutz?

    Wendtner: Die Empfehlung einer vierten Impfung basiert auf Studiendaten aus Israel, wo sehr früh mit der zweiten Auffrischung begonnen wurde. Und es hat sich gezeigt, dass durch die Auffrischung die Zahl der Antikörper zwar schnell ansteigt, aber auch wieder abfällt. Erwarten kann man, dass in Folge der Viertimpfung der Antikörperspiegel bis circa zu einem Faktor Fünf angehoben wird und man einen um 30 bis 40 Prozent besseren Schutz vor einer Infektion hat. Das ist gerade für Menschen wichtig, deren Immunsystem geschwächt ist oder die eben mit Menschen täglich zu tun haben, die besonders anfällig für Infektionen sind. Für immungesunde Menschen halte ich den Effekt einer vierten Impfung für eher marginal. Richtung Herbst, wenn die Drittimpfung bei vielen schon etwa ein Jahr zurückliegt, ist eine Viertimpfung noch einmal neu zu bewerten.

    Befürworten Sie weiter eine Impfpflicht?

    Wendtner: Ich habe mich immer dafür ausgesprochen, dass nach der einrichtungsbezogenen die allgemeine Impfpflicht kommen muss. Leider wird sie aktuell politisch zerredet. Aus meiner Sicht brauchen wir die allgemeine Impfpflicht nicht, um die Ausläufer von Omikron und die sich aktuell aufbauende sechste Welle abzufedern. Wir brauchen die allgemeine Impfpflicht als Vorbereitung für den Herbst, weil ich aktuell nicht den Punkt sehe, an dem wir in diesem Jahr noch in eine endemische Phase ohne Infektionswellen kommen. Daher muss man gut für den Herbst vorbereitet sein. Wenn man das Infektionsgeschehen jetzt abwartet und im Herbst erst zu diskutieren anfängt, laufen wir wieder den Infektionswellen hinterher, dabei müssen wir doch endlich vor die Welle kommen. Wichtig wäre es nach wie vor, dass sich auch über den Frühling und Sommer einfach möglichst viele Menschen, gerade ab 50, aktiv für eine Impfung entscheiden. Je mehr das tun, umso weniger müsste eine Impfpflicht überhaupt Thema sein.

    Wie geht es aus Ihrer Sicht weiter mit der Pandemie?

    Wendtner: Ich denke, dass wir die Pandemie in 2022 noch nicht für beendet erklären können. Fraglich ist, ob wir das im Laufe des nächsten Jahres schon schaffen werden. Denn ich befürchte, es ist nicht eine Sache von Monaten. Zu wünschen wäre es, dass wir – vergleichbar mit einer Influenza – uns jedes Jahr auf eine Infektionswelle einstellen können, mindestens die besonders gefährdeten Menschen sich auch jedes Jahr impfen lassen und wir dann ohne Überlastung unseres Gesundheitssystems die Infektion bewältigen können und keine großen Wellen mehr erleben. Und auf dem Weg dorthin werden wir Stück für Stück besser lernen mit der Situation umzugehen und unser Leben ohne größere Einschränkungen zu gestalten.

    Zur Person: Prof. Dr. Clemens Wendtner, 56, ist Chefarzt der Infektiologie an der München Klinik Schwabing und berät die Regierung in Corona-Fragen.

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