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Lesetipp: "Es war der fürchterlichste Tag": Als der Terror in München klopfte

Polizisten in Trainingsanzügen stürmen das Gebäude in der Conollystraße 31 im Olympischen Dorf mit Schnellfeuerwaffen, um die Geiselnahme der israelischen Sportler zu beenden.
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"Es war der fürchterlichste Tag": Als der Terror in München klopfte

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    Die Tür, an die vor 50 Jahren der Terror in München klopfte, soll geschlossen bleiben. Darauf achten sie im Mehrparteienhaus der Connollystraße 31 ganz penibel. Denn die Schaulustigen seien nicht mehr zumutbar für die Menschen, die hier wohnen – sagt eine Frau, die hier wohnt. Seit 1976.

    Nur drei Zimmerwände von ihrem Eigenheim entfernt drangen am frühen Morgen des 5. September 1972 acht palästinensische Terroristen in die Apartments israelischer Sportler ein. Hier begann ein gut 20-stündiges, tödliches Geiseldrama. Hier endete die Heiterkeit der Olympischen Spiele von München. Und hier stellte sich als Erstes die Frage, die noch heute ganz verschiedenen Menschen auf der Seele brennt, einem pensionierten Polizisten in Unterfranken, einer 66-jährigen Holländerin in Tel Aviv, einem etwas verzweifelten CSU-Politiker: Wie sich an einen Tag erinnern, der fast ein halbes Jahrhundert lang verdrängt wurde?

    Sommer 2022, fast 40 Grad drücken auf das Olympische Dorf. Durch die Betonschluchten schlendern zwei junge Männer. Vor einer Gedenktafel machen sie Halt. Auf ihr die Namen elf getöteter Israelis. „Wieder was gelernt“, sagt einer. Dann ziehen sie weiter.

    Einschusslöcher wurden verputzt, Räume gestrichen, Menschen aus aller Welt zogen ein

    Die Tafel ist ein in Stein gepresster Kompromiss. Denn was aus der Connollystraße 31 werden sollte, wurde kurz nach dem Attentat schnell zur Streitfrage. Eine Gedenkstätte für bis zu 400.000 Mark? War den Verantwortlichen zu teuer. Pläne für ein zeitgeschichtliches Institut oder eine internationale Jugendbibliothek? Verwarf man. Während die angrenzenden Apartments an Privatleute verkauft wurden, vermachte die Stadt München das historisch kontaminierte Haupthaus im Jahr 1974 der Max-Planck-Gesellschaft.

    Wo das Drama seinen Anfang nahm, liegen heute Fußmatten: Flur des ehemaligen jüdischen Wohnkomplexes in der Connollystraße 31.
    Wo das Drama seinen Anfang nahm, liegen heute Fußmatten: Flur des ehemaligen jüdischen Wohnkomplexes in der Connollystraße 31. Foto: Fabian Huber

    Die Einschusslöcher wurden verputzt, die Räume gestrichen. Auf dem damals nackten Balkon, hinter dem die Israelis in die Mündungen von Kalaschnikows blickten, wuchert heute der Efeu. Noch immer bringt die Forschungsgesellschaft hier Wissenschaftlerinnen und Studenten von überall her unter, aus Italien, Belarus, Saudi-Arabien, Polen. Nachbarn hören sie nachts gemeinsam feiern. Die Welt unter einem Dach, der olympische Gedanke lebt weiter.

    Kurzes Klingeln bei der internationalen Gemeinschaft. Keine Reaktion. Doch ein anderer Anwohner des Gebäudekomplexes öffnet. Das Treppenhaus der ehemaligen israelischen Wohneinheit kann sich seit den 70ern kaum verändert haben: grauer Linoleumboden, blaue Glanzbeschichtung auf den Geländern. Vor jener Wohnungstür, durch die die Attentäter damals das erste Mal schossen, liegt heute eine Fußmatte. "Home", steht darauf. Doch egal, ob man klopft oder Mails schreibt – die Türen in der Connollystraße 31 bleiben verschlossen. Der Ort des Schreckens ist zu einem Ort der Abschottung geworden.

    Wer genau wissen will, was hier vor 50 Jahren geschah, kann sich im Münchner Staatsarchiv durch 90 Aktenordner und Mappen wühlen, durch grausige Leichenbilder und vernichtende Einsatzberichte der Polizei.

    Akten des Versagens
    Akten des Versagens Foto: Fabian Huber

    Gegen 4 Uhr morgens klettern die Terroristen der Palästinensergruppe „Schwarzer September“ über ein Tor ins Olympische Dorf. Es sind die ersten Spiele auf deutschem Boden seit Berlin 1936. Die Bundesrepublik will ihr friedliches Gesicht zeigen. Sicherheitspersonal in azurblauer Uniform, kein Stacheldraht, keine Maschinenpistolen. Gute Bedingungen für Menschen mit bösen Absichten.

    Der Haupteingang der Connollystraße 31 ist damals unverschlossen. Die Palästinenser klingeln noch. Dann bringen sie elf Israelis in ihre Gewalt. Ringertrainer Mosche Weinberg wird bei der Flucht erschossen, sein Schützling Josef Romano schwer verwundet, als er sich auf einen Attentäter stürzen will. Er verblutet, vor den restlichen neun, die gefesselt auf einem Bett ausharren müssen.

    Ein Flugzeug wird bereitgestellt – unbetankt: Es soll nie abheben

    Die Geiselnehmer fordern ein Flugzeug und die Freilassung von mehr als 200 in Israel inhaftierten Palästinensern sowie der deutschen RAF-Terroristen Andreas Baader und Ulrika Meinhof. Bis 9 Uhr. Sonst sind die Geiseln tot.

    Immer wieder wird das Ultimatum verlängert. Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher bietet sich als Austauschgeisel an. Gleichzeitig lehnt die Bundesregierung das Angebot der Israelis ab, eine Anti-Terror-Spezialeinheit nach München zu schicken. Sie selbst hat keine solchen Kräfte. Stattdessen können die Attentäter live im TV verfolgen, wie als Sportler verkleidete Polizisten eine Befreiungsaktion vorbereiten und dann wieder abblasen müssen.

    Um kurz nach 22 Uhr werden Täter und Geiseln mit zwei Hubschraubern zum Fliegerhorst Fürstenfeldbruck gebracht. Dort wartet eine Boeing 727. Unbetankt. Das Flugzeug soll nie abheben.

    Die Katastrophe
    Die Katastrophe Foto: picture alliance, dpa

    Zurück im Jetzt, im letzten Fleckchen Bayerns, Sternberg, Unterfranken, ein Kellerbüro. Dort trägt ein 69-jähriger Mann das Haar noch immer so gescheitelt wie 1972. Reinhold Alberts Erinnerungen an den 5. September sind verblasst. Doch sie werden schärfer mit jedem Satz, durch den er haspelt, mit jedem Moment, den er händewedelnd wiedererlebt, mit jeder Zeile dieses Briefs, den er seiner heutigen Ehefrau geschrieben hat – München, 6.9.1972. „Liebe Marianne“, beginnt er, so krakelig, als würde er immer noch zittern. „Es war der fürchterlichste Tag, den ich je zu überstehen hatte.“

    Als im Hangar von Fürstenfeldbruck die ersten Kugeln am Kopf des 18-jährigen Polizeischülers vorbeizischen, ist Alberts Jugend plötzlich vorbei. „Seitdem ist alles viel ernster. Ich werde das mein Leben lang nicht vergessen.“ Wie ein Terrorist auf ihn zuläuft und sich mit einer Granate selbst zerfetzt. Wie neben ihm in der Tür der Polizist Anton Fliegerbauer über der rechten Augenbraue getroffen wird, 32 Jahre alt, Familienvater, sofort tot. Wie vor seinen Augen schiefläuft, was schieflaufen musste, beim Showdown in Fürstenfeldbruck.

    Sie waren noch halbe Kinder, für sie war alles daran spannend – bis der erste Schuss fiel

    16 freiwillige Polizisten sollen die Palästinenser im Flugzeug überraschen, machen kurz zuvor aber doch kehrt. Sie hatten gerade mal drei Maschinenpistolen. Ein Himmelfahrtskommando. Angeforderte Radpanzer stecken fast eine Stunde im Stau. Die Einsatzleitung rechnet mit fünf statt acht Attentätern, postierte deshalb nur fünf Scharfschützen – ohne Funkkontakt zueinander.

    Albert selbst trägt nur ein Kurzarmhemd, eine dünne Hoseund eine 7,65-Millimeter-Pistole von Heckler & Koch. Seit neun Monaten steckt er damals in der Grundausbildung. Bei den Spielen war er mit dem Zug seiner Einsatzhundertschaft sinnlos durch Münchens Außenbezirke patrouilliert, während das Olympiadorf weitgehend unbewacht blieb. Und dann hieß es plötzlich: Ab nach Fürstenfeldbruck. „Es gab keinen Plan, nichts. Wir waren noch halbe Kinder. Für uns war das wie ein Indianerspiel. Alles war spannend. Bis der erste Schuss fiel“, erinnert sich Albert.

    Als gegen 0.30 Uhr der Kugelhagel verstummt, sind alle Geiseln tot. Die Attentäter hatten sie erschossen. Auch fünf Palästinenser kommen um, drei werden festgenommen. Um 4 Uhr morgens wird Alberts Einheit abgelöst.

    Reinhold Albert als 18-jähriger Polizeischüler und 50 Jahre später. Den Einsatz in Fürstenfeldbruck wird er nie vergessen.
    Reinhold Albert als 18-jähriger Polizeischüler und 50 Jahre später. Den Einsatz in Fürstenfeldbruck wird er nie vergessen. Foto: Fabian Huber, privat

    Zigmal ist er danach im Schlaf erschossen worden. Die Albträume quälten ihn für acht Jahre. „Ich habe das verdrängt, wollte nichts mehr davon hören, habe mir all diese Filme und Dokumentationen über den Anschlag nicht angeschaut.“ Bei Jahrestreffen der Hundertschaft sprach man über alles. Nur nicht über München.

    Dann fand er kurz vor der Pensionierung den alten Brief an seine Geliebte, verstaut in einer Kiste im Keller. Daneben, auf den schwarzen Regalmetern des passionierten Heimatforschers, liegt ein Buch: „Geschichte der Juden im Grabfeld“, erschienen 1990, Autor: Reinhold Albert. „Wegen Fürstenfeldbruck fühle ich mich verpflichtet, mehr für die deutsch-israelische Freundschaft zu tun als ein normaler Mensch, weil ich einfach…“ Albert zögert, biegt seinen Satz noch mal um. „Was heißt ein schlechtes Gewissen? Das habe ich nicht. Was willst du mit einer 7,65er-Pistole? Was willst du da machen?“

    Vergessen, verzeihen
    Vergessen, verzeihen Foto: dpa

    Die Schuldfrage. Sie ist im Verlauf des Gesprächs nie gefallen. Und doch stellt sie sich Albert selbst. Im Gegensatz zur Bundesrepublik damals. Zwei Tage nach dem Attentat heißt es in einer Vorlage aus dem Auswärtigen Amt an die Regierung: „Gegenseitige Beschuldigungen müssen vermieden werden. Auch keine Selbstkritik.“ Die Spiele gehen weiter, kein Verantwortlicher muss zurücktreten. Die Spezialeinheit GSG9 wird gegründet, zumindest das: ein indirektes Schuldeingeständnis. Eine erste offizielle Gedenkminute bei den Olympischen Spielen gibt es in Tokio. 2021.

    Ludwig Spaenle trug damals keine politische Verantwortung. Zum Zeitpunkt des Anschlags war er elf Jahre alt. Jetzt ist er Antisemitismusbeauftragter der Staatsregierung. Und sauer: „Bis heute dieses peinliche Wegdrücken, dieses Wegschiebenwollen, diese Schande des Erinnerns, dieses totale Wegschweigen.“ Vor ihm hängt ein gerahmter Artikel aus der New York Times: Spaenle, 2017, noch bayerischer Kultusminister, wie er eine Gedenkstätte im Olympiapark auf den Weg bringt. Etwas abseits der Connollystraße.

    Im Strudel aus Verdrängung und Verantwortung, aus Vergessen und Verzeihen ging eine Frage unter: die der Entschädigung

    Es ist Mitte Juli, als der CSU-Mann in seinem Büro empfängt. In genau einer Woche soll er eine Frau treffen, die seit 50 Jahren eben nicht schweigt: Ankie Spitzer, Witwe des israelischen Fechttrainers Andrei Spitzer, geboren am 4. Juli 1945 in Timisoara, gestorben am 6. September 1972 in München. Seit diesem Tag findet die Niederländerin, die inzwischen in Tel Aviv wohnt, keine Ruhe mehr. Sie vertritt die Opferfamilien, hat sich Akteneinsicht erstritten. Spaenle ist sichtlich dankbar für diesen Termin: „Sie wird kommen. Sie wird reden. Was sie will. Solange sie will.“

    Ankie Spitzer wird nicht kommen. Sie wird ihren Flug nach München absagen.

    Denn im Strudel aus Verdrängung und Verantwortung, aus Vergessen und Verzeihen ging eine Frage gänzlich unter: die der angemessenen Entschädigung. Acht Jahre lang hatten die Opferfamilien dafür geklagt. Gut 4,5 Millionen Euro haben sie insgesamt am Ende bekommen. Ein Großteil davon ging für Anwalts- und Gerichtskosten drauf.

    Nun bot die Bundesregierung weitere 5,5 Millionen Euro. Aber die Angehörigen lehnten ab. Beleidigend sei die Summe, sagte Spitzer. In ähnlichen Fällen war die Kompensation um ein Vielfaches höher, beim Anschlag von Lockerbie etwa, als der libysche Geheimdienst 1988 ein Linienflugzeug in die Luft sprengte. Libyen zahlte den Angehörigen der 188 Toten insgesamt 2,46 Milliarden Dollar Entschädigung.

    Zur Gedenkfeier wird der israelische Präsident kommen, auch sein Deutscher Kollege Steinmeier – nur die Wichtigsten, die könnten fehlen

    Wenn am 5. September der Opfer des Olympia-Attentats gedacht wird, sind gut 1000 Menschen geladen. Einen größeren Erinnerungsrahmen hat es nie gegeben. Der israelische Präsident Herzog wird kommen. Sein deutscher Kollege Steinmeier. Doch die Wichtigsten, die könnten fehlen. Bleibt die Bundesregierung bei ihrem Entschädigungsangebot, bleiben die Angehörigen in Israel. Bis 15. August soll die Frage nun in Regierungsgesprächen zwischen Deutschland und Israel geklärt werden. (Ende August hat sich die Bundesregierung mit den Hinterbliebenen geeinigt.)

    „Niemand hat sich je bei mir entschuldigt. Bis heute nicht“, sagte Spitzer neulich der Süddeutschen Zeitung.

    „Vielleicht ist es die letzte Chance, diese Dinge glattzuziehen. Darum geht es. Jetzt, zum 50-Jährigen, schaut die Weltöffentlichkeit nochmals auf diese Tat“, sagt Ludwig Spaenle.

    „Ich habe inzwischen damit abgeschlossen“, sagt der ehemalige Polizist Reinhold Albrecht. Und doch zucken seine Pupillen.

    In der Connollystraße 31 läuft in zwei Jahren der letzte Mietvertrag aus. Das Haus soll dann eine neue Bestimmung bekommen. Welche genau, ist noch unklar. Doch eine Sprecherin der Max-Planck-Gesellschaft gibt einen Hinweis: „Es wird immer wichtiger, das Thema in der Öffentlichkeit wachzuhalten, zu erinnern und darüber zu reflektieren." Der Ort, in dem der Schrecken seinen Anfang nahm, er soll wohl wieder offene Türen bekommen.

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