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50 Jahre Nationalpark: Kann der Nationalpark Bayerischer Wald dem Klimawandel trotzen?

Der Nationalpark Bayerischer Wald wird im Oktober 50 Jahre alt.
50 Jahre Nationalpark

Kann der Nationalpark Bayerischer Wald dem Klimawandel trotzen?

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    In der Luft liegt dieser ganz besondere Duft, den man nur riechen kann, wenn sich im September der Herbst ankündigt. Erdig, moosig, nach Laub. Genau diese Jahreszeit hat Lothar Mies am liebsten. Tief atmet er ein und saugt die Herbstgerüche in sich auf. In seiner Uniform steht der 53-Jährige auf einem schmalen Schotterpfad. Er trägt robuste Wanderstiefel, eine braune Stoffhose und ein beiges Hemd. Am linken Ärmel ist ein Wappen aufgenäht. Das Wort „Nationalparkwacht“ steht darauf. Mies ist seit fast 30 Jahren Ranger im

    Eine aufgeräumte Natur ist im Bayerischen Wald nicht erwünscht

    Wie recht Lothar Mies hat, sieht man auf den ersten Blick. Ein paar Nebelfetzen halten sich an diesem Nachmittag noch hartnäckig in den höchsten Baumkronen. Sonst ist der Blick den Hang hinab frei. Vor Mies liegt ein undurchschreitbares Dickicht. „Da würde man eigentlich nur mit einer Motorsäge durchkommen“, sagt der Ranger. Bäume und Sträucher wachsen kreuz und quer, dicht an dicht. Krumme, kleine, große, abgebrochene und tote Stämme überall. „Ahorn, Buchen, Weiden, Ebereschen, alles wächst eben so, wie es geflogen kommt“, sagt Mies. „Der Deutsche mag es sauber, gehegt und gepflegt, er räumt sogar seine Wälder auf. Aber hier ist das nicht erwünscht.“

    Lothar Mies ist seit 30 Jahren Ranger.
    Lothar Mies ist seit 30 Jahren Ranger. Foto: Maria Heinrich

    Im Nationalpark Bayerischer Wald gilt eine besondere Philosophie: Natur Natur sein lassen. Der Leitsatz bedeutet, dass die Natur sich selbst und ihren eigenen Gesetzen überlassen bleibt. Dass Rückzugsgebiete für wild lebende Tiere und Pflanzen geschaffen werden, dass Vielfalt und Artenreichtum geschützt werden und dass der Mensch nicht in die Umwelt eingreift. 16 Nationalparks gibt es in der Bundesrepublik, in Bayern liegt der zweite in Berchtesgaden. Sie alle haben sich diesem Leitsatz verschrieben. Am längsten wird diese Philosophie im Nationalpark

    "Stürme und Borkenkäfer waren einschneidende Ereignisse."

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    Viel hat sich in diesen Jahrzehnten seit der Gründung des Parks getan, erinnert sich Ranger Lothar Mies, der die Gegend von klein auf kennt und selbst seit 30 Jahren Ranger im Nationalpark ist. Er steht unweit des Lusengipfels, auf etwa 1100 Meter Höhe, wo es an diesem Nachmittag schon richtig kühl ist. Die Bäume um ihn herum bilden ein dichtes Blätterdach, am Boden konkurrieren Farne und Jungpflanzen um das wenige Licht, das durch die Kronen durchkommt. Er streckt den Arm aus und deutet um sich herum. „Es ist herrlich. Aber so schön sah es hier nicht immer aus.“

    Der Ranger erinnert sich zurück an das Jahr 1983, als gewaltige Gewitterstürme fast 30.000 Festmeter Bäume zu Boden rissen. Und an die Jahre Mitte der Neunziger. Als die Fichtenbestände vom Borkenkäfer befallen wurden, die Käfer sich immer weiter ausbreiteten und riesige Flächen des Fichtenwaldes abstarben. Mies kramt in seinem Rucksack und holt ein paar laminierte Bilder hervor, die vor ungefähr 25 Jahren an derselben Stelle aufgenommen wurden, an der er jetzt steht. Kaum etwas Grünes ist darauf zu sehen, nur das Braun der unzähligen toten Bäume. „Das war wie eine Mondlandschaft“, erzählt er.

    Auch Franz Leibl erinnert sich an die schweren Schäden, die der Borkenkäfer damals verursachte. „Es war ein einschneidendes Ereignis für den Wald“, sagt der Leiter der Parkverwaltung, „aber eine zweischneidige Sache.“ Auf der einen Seite waren da die vielen kritischen Stimmen der Bevölkerung und der Gegner, die den Nationalpark infrage stellten. „Viele von ihnen lehnten den Park bereits in den Gründerjahren ab und fühlten sich durch diese Ereignisse und die massiven Schäden in ihrer Kritik bestätigt.“ Es seien schlimme Bilder gewesen, gibt

    Der Klimawandel ist auch für den Nationalpark die größte Herausforderung

    Ranger Lothar Mies hat erlebt, wie die Menschen umdenken können. „Ich kenne einen Mann, der sozusagen vom Saulus zum Paulus wurde.“ Er sei jahrzehntelang in der Gegnerschaft aktiv gewesen. Und dann habe er sich um 180 Grad gedreht. „Er hat gesehen, wie toll sich der Wald erholt hat, und gibt heute selbst Führungen durch den Nationalpark.“

    Auf der anderen Seite, erklärt Parkleiter Leibl, hätten die Stürme und der Borkenkäferbefall auch sozusagen ihr Gutes gehabt. „Mit diesen Schäden wurde auf großer Welle eine Naturparkentwicklung eingeleitet, die sonst so nie stattgefunden hätte.“ So hätten Biologen und Ökologen lernen, verstehen und studieren können, wie wirkliche Naturwälder in Bayern überhaupt aussehen und heranwachsen. Der Park als Lernort, das ist für Parkleiter Franz Leibl eine wichtige Aufgabe von Nationalparks. Drei große sind es insgesamt: Naturschutz, Erholung und Forschung beziehungsweise Bildung. „Nur hier, weil hier der Mensch nicht eingreift, können wir sehen, wie sich heimische Wälder auf die Erderwärmung vorbereiten.“ Der Klimawandel sei die größte Herausforderung, die der Bayerische Wald in der Zukunft zu bewältigen hat. „Das ist natürlich ein Ergebnis mit offenem Ausgang und nicht vorhersehbar. Deshalb werden wir auch im Kampf gegen den

    Ein Bild im Bild derselben Stelle im Park: vor 25 Jahren und heute.
    Ein Bild im Bild derselben Stelle im Park: vor 25 Jahren und heute. Foto: Maria Heinrich

    Mit dieser Entscheidung stehen der Nationalpark Bayerischer Wald und der Nationalpark Berchtesgaden eher allein da. Viele private Waldbesitzer und auch die bayerischen Staatsforsten gehen einen anderen Weg, um ihre Wälder auf den Klimawandel vorzubereiten, sagt Sebastian Seibold, Forstwissenschaftler und Waldökologe an der Technischen Universität München. „Sie experimentieren mit anderen Baumarten, die bei uns nicht vorkommen, aber die in der Zukunft hier wachsen könnten.“

    Den Leitsatz des Nationalparks zu begreifen und zu akzeptieren, sei für einige Menschen nach wie vor nicht leicht, sagen Franz Leibl und Lothar Mies. Der Bezug zur Wildnis und das Wissen, was Natur überhaupt ist, sei in den vergangenen Jahrhunderten zunehmend verloren gegangen. „Das müssen wir erst wieder lernen“, sagt Lothar Mies. Und auch so mancher private Waldbesitzer sehe es eher kritisch, den Wald sich selbst zu überlassen, sagt Forstwissenschaftler Seibold. „Für Wirtschaftswälder gelten in der Fläche natürlich nicht nur Naturschutzziele. Waldbesitzer müssen viel Holz produzieren, ernten und verkaufen.“ Da komme es auf die Zielsetzung an. „Wenn ich Artenvielfalt und das Ökosystem schützen will, ist das Konzept – die Natur sich selbst zu überlassen – sicherlich ein guter Ansatz“, sagt Seibold. „Will man viel Holz ernten, muss der Mensch eingreifen.“

    "Ein dritter Park in Bayern wäre eine gute Sache."

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    Beide Konzepte abzuwägen, sei ein Lernprozess, sagt Forstwissenschaftler Seibold. Dass dieser Prozess bereits eingesetzt habe, ist Parkleiter Leibl überzeugt. „Wir hatten 2013 eine Naturbewusstseinsstudie. Daraus erging, dass der Begriff Wildnis von vielen Menschen wieder positiv belegt ist. Viele Besucher kommen her, weil sie diese wild wachsende Natur erleben wollen.“ Dieses Erlebnis haben in diesem ungewöhnlichen Corona-Jahr besonders viele Menschen gesucht, erzählt Mies. Er stapft einen Schotterweg entlang, immer wieder grüßt er vorbeikommende Wanderer. Einer von ihnen stöhnt angestrengt auf. „Geht’s noch?“, ruft Mies dem Mann zu. „Naaa, des geht schon seit vier Stunden nicht mehr. Ich brauch endlich ein Weißbier.“ Im Frühjahr und Sommer sei der Andrang besonders groß gewesen, erzählt Mies. „Da gab es natürlich auch viele Probleme. In den ersten Monaten des Lockdown seien besonders viele Tagesausflügler gekommen, Parkplätze seien überfüllt gewesen, überall sei Müll gelegen, E-Bike-Fahrer und Mountainbiker seien auf verbotenen Wegen gefahren. „Man sollte sich informieren, welche Regeln in so einem Schutzgebiet gelten.“ Als heftig beschreibt auch Leibl den Besucherandrang. „Auf den Berggipfeln rudelten sich die Menschen richtig zusammen. Das war nicht mehr schön.“ Dabei freuen sich die Männer, dass das Interesse am Nationalpark allgemein wieder zunimmt. „Früher, da war das Publikum 60 aufwärts. Heute gehen auch die Buben und Dirndl mit 18 auf den Berg.“

    50 Jahre Nationalpark Bayerischer Wald

    Gebiet: Der Nationalpark liegt im Osten Niederbayerns an der Grenze zu Tschechien. Das Schutzgebiet wird von der Nationalparkverwaltung, einer Sonderbehörde des bayerischen Umweltministeriums, betreut. Mit dem Nachbar-Nationalpark Sumava. bildet er das größte zusammenhängende Waldschutzgebiet Mitteleuropas.

    Gründung: Am 11. Juni 1969 stimmte der Bayerische Landtag einstimmig für den Gründungsbeschluss zur Errichtung eines Nationalparks im Gebiet zwischen den Bergen Rachel und Lusen. Am 7. Oktober 1970 wurde das im Landkreis Freyung-Grafenau liegende Schutzgebiet mit einer Größe von 13.000 Hektar eröffnet.

    Erweiterung: Am 1. August 1997 wurde der Nationalpark um 11 999 Hektar im Landkreis Regen erweitert.

    Größe: Insgesamt beträgt die Schutzzone 24.250 Hektar.

    Besucher: Insgesamt zählt die Parkverwaltung im Schnitt 1,4 Millionen Besucher im Jahr.

    Philosophie: Nach dem Leitsatz „Natur Natur sein lassen“ darf sich der Wald im Nationalpark nach seinen eigenen Gesetzen entwickeln.

    Schutzzone: Bis 2027 sollen 75 Prozent der Fläche des Nationalparks sich selbst überlassen werden.

    Wenn das Interesse und das Verlangen nach dem Naturerleben so groß ist, warum gibt es in Bayern dann keinen dritten Nationalpark? Nach Angaben des Bund Naturschutz würden derzeit 64 Prozent der Bevölkerung bei der Frage nach einem weiteren Nationalpark in Bayern mit Ja stimmen. Auch Mies und Leibl sind angetan von der Idee. Sie sagen: „Wenn ein dritter Park entstehen würde, der fachlich und inhaltlich dem Nationalpark-Konzept würdig ist, dann wäre das eine gute Sache“, sagt Franz Leibl.

    Trotz aller Befürworter sind die Planungen für einen dritten Park auf Eis gelegt. Die bayerische Landesregierung unter Ministerpräsident Söder hat im April 2018 den bereits angelaufenen Suchprozess für ein Nationalparkgebiet abgebrochen. Potenzielle Kandidaten hatte es dabei viele gegeben: Frankenwald, Spessart, Steigerwald und Rhön. Doch die Gebiete fielen frühzeitig wieder aus der Planung für einen dritten Park. Die Begründung lautete in allen Fällen: Es solle keinen Nationalpark gegen den Willen der Bevölkerung geben. Und der Protest der Anwohner in den umliegenden Gemeinden war tatsächlich in allen Regionen beträchtlich. Aber vielleicht ist auch das ein Lernprozess.

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