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20 Jahre nach Galtür: Wie ein Ehepaar aus der Region der Lawine entkam

20 Jahre nach Galtür

Wie ein Ehepaar aus der Region der Lawine entkam

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    Galtür, ein Tag nach dem Lawinenunglück. Rettungsmannschaften suchen nach Verschütteten.
    Galtür, ein Tag nach dem Lawinenunglück. Rettungsmannschaften suchen nach Verschütteten. Foto: Minich/APA, dpa

    Ein Jahr danach sind sie schon wieder hingefahren. Wieder an Fasching, wieder in dieselbe Pension. Kordula Vogg sagt heute noch, nach 20 Jahren: „Man kann die Menschen dort nicht hängen lassen, sie können doch nichts dafür.“

    In den Stunden der Verzweiflung hatte Rosi, die Pensionswirtin, sie angefleht: „Bitte lasst uns nicht im Stich.“ Kordula und Georg Vogg aus Bühl, einem Ortsteil von Bibertal im Landkreis Günzburg, hielten Wort. Wo andere abgewunken, ja die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen haben, wie man denn je wieder in Galtür Urlaub machen könne, nach diesem Drama, den vielen Toten, den angeblichen Pannen, die passiert seien, packten die Voggs im Februar 2000 ihre Skier ein und fuhren demonstrativ dorthin. Da hatten sie das, was sie zwölf Monate zuvor in dem Örtlein am Rande Tirols erlebt hatten, noch längst nicht verarbeitet. Wie auch?

    Wie soll der Verstand erfassen, dass sich binnen Sekunden 120.000 bis 160.000 Tonnen Schnee in Bewegung setzen und alles niedermachen können, was im Weg steht? Oder wie es Rudi Mair, der Leiter des Tiroler Lawinenwarndienstes, zu veranschaulichen versucht: „Das sind 3000 bis 4000 mit Schnee beladene große Lastwagen, die mit Tempo 300 durch den Ort rasen.“

    38 Tote an zwei Tagen, darunter 21 Deutsche

    Als die Sonne unterging an diesem 23. Februar 1999 im Skiort Galtür, waren 31 Menschen nicht mehr am Leben. Einen Tag später starben sieben weitere, als ebenfalls eine Lawine im benachbarten Valzur abging. 38 Tote an zwei Tagen, darunter allein 21 aus Deutschland. Und allein zwölf Kinder.

    Man muss sich das mal vorstellen: Vier Wochen, in denen es fast pausenlos schneit. Zwischen 27. Januar und 24. Februar 1999 war das so.

    Man glaubt ja, solche extremen Wetter-Ereignisse noch ganz frisch vor Augen zu haben. Es ist erst ein paar Wochen her, dass die Niederschläge in den Alpen nicht aufhören wollten, mehrere bayerische Landkreise den Katastrophenfall ausriefen und einige Orte in Österreich von der Außenwelt abgeschnitten waren. Und es gingen Lawinen ab – mit vergleichsweise glimpflichem Ausgang wie in Balderschwang (Oberallgäu) oder am Tegelberg in Schwangau (Ostallgäu), aber auch mit tödlichem Ende wie in Lech am Arlberg und in Norditalien.

    Doch die Dimension von Galtür steht auf einem anderen Blatt. Trotz aller Fortschritte, die der Lawinenschutz in den zwei Jahrzehnten danach gemacht hat, steht dieses Unglück noch immer beispielhaft für die Unberechenbarkeit der Naturgewalten. Deshalb ist Lawinen-Fachmann Mair auch überzeugt: „Wenn es wie damals drei bis vier Wochen durchschneien würde, würde es wieder Probleme geben.“

    Die Lawinengefahr war damals nicht übermäßig hoch. Aber es lag halt teilweise die sechsfache Schneemenge des 100-jährigen Mittelwerts. Rechts und links der Hauptstraße stapelte sich geräumter Schnee auf vier Metern Höhe. Lifte stellten den Betrieb ein. Die Pistenraupen konnten keine brauchbaren Hänge mehr präparieren.

    Im Nu war der einzige Lebensmittelmarkt leergeräumt

    Am 17. Februar hieß es: Das Tal ist zu, es kommt niemand mehr herein und niemand hinaus. In wenigen Stunden war der einzige Lebensmittelmarkt in Galtür mit seinen damals 700 Einwohnern leer gefegt. Nur Konserven und ein paar Magazine lagen noch in den Regalen von „Nah und frisch“. Die Frau an der Kasse wurde gefragt, wann das Tal wieder aufgeht. Sie orakelte: „S’wird scho besser wern.“

    Da schien wieder die Sonne. Aber wer in Galtür hatte nach diesem zerstörerischen Drama schon den Blick dafür?
    Da schien wieder die Sonne. Aber wer in Galtür hatte nach diesem zerstörerischen Drama schon den Blick dafür? Foto: Peter Kneffel, dpa

    Die Einheimischen gingen routiniert mit dem Schnee um. Früher waren sie jedes Jahr eingeschneit, erzählten sie. Über Wochen hinweg.

    Die Touristen mussten ihren Urlaub verlängern, es blieb ihnen nichts anderes übrig. Der eine oder andere unternahm ausgedehnte Winterspaziergänge, man durfte halt nicht zu weit weg vom Ort stapfen. Es hätte ja sein können, dass die Schranke an der Straße aufgeht und die Durchfahrt freigegeben wird. Dann musste man parat stehen.

    Zur Unterhaltung der Gäste gab es Programm – am Unglückstag ein Fassdaubenrennen am Dorfplatz. Fassdauben sind gebogene Fassbretter, die eine ähnliche Form haben wie richtige Skier.

    Kaum war der Spaß vorbei, ging es los. Es war kurz nach 16 Uhr.

    Alles dauerte nur ein paar Sekunden. Aber danach begann für viele Menschen eine neue Zeitrechnung. Der Alpinpolizist Alfons Walser rang um Worte, als er seiner Einsatzzentrale die Katastrophe zu beschreiben versuchte: „Hier Galtür. Es ist ein Mords-Unglück.“

    Wie lange es bei Kordula Vogg gedauert hat, bis sie halbwegs diese paar Sekunden geordnet hatte, geschweige denn über die schlimmsten Momente hinweg war? „Sehr lange“, sagt sie und atmet tief durch. „Ich denke immer wieder daran.“

    Es ist den Voggs nichts passiert damals, das ist das Wichtigste. Aber das war eher dem Zufall geschuldet. Oder dem Schicksal. Oder der „Gabe Gottes“, wie ihr Mann es mal formuliert hat.

    Lawinengefahr: Die fünf Warnstufen

    Die europäische Lawinengefahrenskala unterscheidet fünf Gefahrenstufen - von gering bis sehr groß. Das haben sie zu bedeuten.

    Stufe 1 - gering: Die Schneedecke ist allgemein stabil, mit wenigen Ausnahmen an extrem steilen Hängen herrschen sichere Verhältnisse.

    Stufe 2 - mäßig: Eine Auslösung von Lawinen ist vor allem bei großer Zusatzbelastung etwa durch Skifahrergruppen an Steilhängen mit einer Neigung von mehr als rund 30 Grad möglich.

    Stufe 3 - erheblich: Eine Auslösung ist bereits bei geringer Zusatzbelastung (einzelner Skifahrer, Snowboarder oder Schneeschuhgeher) vor allem an gefährdeten Steilhängen mit nur mäßig verfestigter Schneedecke möglich. Spontan (ohne menschliches Zutun) sind bereits einige auch große Lawinen zu erwarten.

    Stufe 4 - groß: Eine Auslösung ist bereits bei geringer Zusatzbelastung an zahlreichen Steilhängen wahrscheinlich. Spontan können viele große, mehrfach auch sehr große Lawinen abgehen.

    Stufe 5 - sehr groß: Spontan sind viele sehr große, mehrfach auch extrem große Lawinen selbst in mäßig steilem Gelände unter 30 Grad zu erwarten. (dpa)

    Sie wollten einen Spaziergang machen. Sie hätten ihn wohl nicht überlebt

    Kordula Vogg war gerade in der Sauna gewesen. Sie wollte mit Georg einen Spaziergang machen – auf jener Straße im Ortszentrum, über die kurze Zeit später die Lawine rollte. Sie entschieden sich um und gingen was essen, in die „Tiroler Stuben“.

    Dann der Knall. Auf einen Schlag war es dunkel in der Gaststätte. Durch die Fenster war nur noch Schnee zu sehen, nichts als Schnee. Sie eilten in ihre Pension, so gut das ging. Georg Vogg hielt es dort nicht lange aus. Zusammen mit anderen Freiwilligen suchte er nach Verschütteten, stundenlang. Sie sahen, wie Rettungskräfte Tote aus den zerstörten Häusern trugen. Das Galtür von früher gab es nicht mehr.

    Bürgermeister Anton Mattle saß in dem Moment, als die Schneewalze den Ort verdunkelte, an seinem Schreibtisch im Gemeindeamt. Zwischen Leben und Tod, erzählt er, lagen nur wenige Meter. „In einem Haus wurden zwei Frauen in einem Raum vom Schnee begraben, im verschonten Zimmer nebenan brannte noch die Kerze.“

    Dramatisch war auch, dass die Bewohner und Gäste zunächst auf sich allein gestellt waren. Wegen des Schneetreibens und der hereinbrechenden Nacht konnten Rettungskräfte erst nach rund 15 Stunden eingeflogen werden. Bis dahin hatten Ärzte, die als Urlauber in Galtür waren, ein Notlazarett eingerichtet.

    Das Unglück zerstörte oder beschädigte etwa 30 Häuser und Höfe. Sie alle lagen nicht in einer Gefahrenzone. Seit Jahrhunderten war keine Lawine vom 2700 Meter hohen Grieskogel die 1100 Höhenmeter hinab nach Galtür gestürzt. „Gefahrenzonenpläne orientieren sich an der Lawinenchronik“, sagt Experte Mair. Die Geschichte spielte dem Ort einen grausamen Streich.

    Als sich das Wetter besserte, wurde die größte Luftbrücke in der Geschichte Österreichs aufgezogen. 42 Hubschrauber aus Österreich, Deutschland, den USA und Frankreich flogen an die 18.000 Menschen aus Galtür und dem ebenfalls eingeschneiten Ischgl aus, die Straße war ja noch immer blockiert.

    Auch das Ehepaar Vogg stieg in den Helikopter. Kordula Vogg bewundert noch heute, wie professionell die Rettungskräfte gearbeitet hätten, wie reibungslos die Evakuierung gelaufen sei. Und die späteren Vorwürfe, die Versorgung mit Essen habe nicht funktioniert, der Lawinenschutz sei unzureichend gewesen? „Alles Unsinn. Niemand konnte mit solchen Schneemassen rechnen, niemand konnte diese Lawine vorausahnen.“ Und dann sagt sie noch einmal: „Niemand.“

    Die Wunden von damals sind weitgehend geschlossen, Anton Mattle behauptet das jedenfalls. Er ist noch immer Bürgermeister. Galtür war der Auslöser dafür, landesweit den Lawinenschutz zu verbessern. Den Ort selbst schützen seit der Jahrtausendwende zwei große massive Steinwälle. Eine Mauer läuft längs des Tales zwischen Berghang und Dorfflanke. 345 Meter lang, 19 Meter hoch, ein gewaltiges Bauwerk. In den Wall wurde ein großzügiges Museum integriert. Das Alpinarium will Besucher über die Alpen aufklären und deren Gefahren aufzeigen. Und es beleuchtet die Geschichte des Tourismus, von dem die Menschen hier seit mehr als 100 Jahren leben.

    Unter anderem diese Steinmauer schützt den Ort Galtür heute vor möglichen neuen Lawinen.
    Unter anderem diese Steinmauer schützt den Ort Galtür heute vor möglichen neuen Lawinen. Foto: Toni Mattle/APA, dpa

    Heute läuft man in Galtür gegen Mauern des Schweigens

    Ein Raum im Alpinarium heißt Memento. Ein Raum ohne Fenster. An den Wänden hängen düster gestimmte Ölbilder, eines mit einem breiten Kreuz als wichtigstem Motiv. Das Memento erinnert an die 31 Toten in Galtür und die sieben Toten im tiefer gelegenen Valzur.

    23. Februar 1999. Natürlich ist dieses Datum bis heute ein Thema in den Familien. Es gibt Ereignisse vor der Lawine und Ereignisse nach der Lawine.

    Wer Galtür heute besucht, wird den Unterschied zwischen vorher und nachher auf den ersten Blick nicht bemerken. Die Menschen haben Zerstörtes neu aufgebaut. Die Ereignisse des Jahres 1999 werden keinem auf die Nase gebunden. Auf den ersten Blick wirkt Galtür fast wie ein kleines normales Tiroler Dorf, in Nachbarschaft zum größeren Ischgl. Doch schon der Gang über den Kirchhof mit seinen schmiedeeisernen Kreuzen durchbricht alle Durchschnittlichkeit, erst recht das Memento im Alpinarium.

    Und trotzdem sucht der Ort wieder die Normalität. Die Wirte wollen ihre Stuben und Betten füllen, die Deutschen stellen nach wie vor die größte Gästegruppe. „Das ideale Urlaubsziel für einen unvergesslichen Winterurlaub in Österreich“ – so wirbt die Gemeinde auf ihrer Homepage. Auf dem Bild daneben wedelt ein behelmter Skifahrer einen steilen Hang hinab. Im Neuschnee, abseits der Piste.

    Galtür richtet sich für die Zukunft. Über die Vergangenheit ist hier schwer zu reden. Man läuft gegen Mauern des Schweigens. „Mir wär’s lieber, wenn Sie mich in Ruhe lassen“, sagt beispielsweise Helmut Pöll, der das Bauamt und die Gemeindekasse leitet. Dann legt er schnell den Telefonhörer auf.

    Viele Urlauber sind wieder nach Galtür zurückgekehrt. Nicht alle, aber viele. Und wie war das für die Voggs, kümmerliche zwölf Monate danach? „Die Einheimischen wollten nicht darüber reden“, erzählt auch Karola Vogg. „Sie wollten ihre Ruhe haben.“ Vogg hat gemeinsam mit Ehemann Georg noch einige Male dort Urlaub gemacht, zuletzt nicht mehr, „man will ja mal was Neues sehen“. (mit dpa)

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