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Foto: Peter Kneffel, dpa
Foto: Peter Kneffel, dpa

Mit etwas mehr als 20 Zentimetern ist das Eis auf dem Spitzingsee im Landkreis Miesbach dick genug, um die Tagestouristen zu tragen. Ein Bild aus den vergangenen Tagen im tiefsten Oberbayern.

15-Kilometer-Regel
09.01.2021

Ansturm am Spitzingsee: Wie eine Region unter Tagestouristen leidet

Von Fabian Huber

Am zugefrorenen Spitzingsee knirscht es gewaltig: viele Tagestouristen, fragliche politische Maßnahmen, ein verzweifelter Landrat. Wie lange geht das noch gut?

Es hat schon etwas von Kanada. Der Nadelwald. Das Bergpanorama. Das Knarzen auf dem zugefrorenen See. Aus Stiefelpaaren hat eine Gruppe Jungs zweidimensionale Eishockey-Tore improvisiert. Der Puck läuft, vier gegen vier, "3:2 für uns", ruft ein Jugendlicher im Trikot der Traditionsmannschaft Chicago Blackhawks. Nummer 88, Patrick Kane.

Spitzingsee, 1084 Meter Höhe, der vergangene Dreikönigstag. Tief Lisa berieselt Bayern seit Tagen mit weißen Flocken, auch jetzt wieder. In der Autokolonne geht es durch dunklen Schneematsch nach oben, an diesen zauberhaften Ort, an dem die Menschen offenbar einen Haufen Spaß und wenig böse Viren erwarten. Zu Hunderten wuseln schwarze Punkte über die Ebene, wie eine Ameisenkolonie. Mit gut 20 Zentimetern ist das Eis dick genug, um die Ausflügler zu tragen.

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Foto: Fabian Huber
Foto: Fabian Huber

Aber gemessen an dem Ansturm ist das hier ganz schön dünnes Eis. Und die Frage ist, wie viel der Landkreis Miesbach davon noch ertragen kann.

45 Autominuten nordwestlich in Holzkirchen sitzt Olaf von Löwis an diesem Morgen in seinem Wohnzimmer und scrollt durch den Chatverlauf mit Markus Söder. Es riecht nach Weihrauch. Eine Tradition der Ehefrau an Dreikönig, um den Mief, vielleicht auch den Stress der Feiertage zu vertreiben.

Der Landrat schickte einen Hilferuf an Markus Söder

Die grünen Nachrichtenblasen des Landrats füllen den gesamten Handy-Bildschirm. Dazwischen die Ein-Satz-Antworten des bayerischen Ministerpräsidenten. Am 28. Dezember, gegen halb drei nachmittags, schreibt von Löwis: Lieber Markus, ich nerve dich nur sehr ungern per SMS. Aber bei uns ufert der Tagestourismus aus. Es brennt wirklich (Spitzingsee, Schliersee u.a.). Was kann man tun, um die Ausflugswilligen zu sensibilisieren und zu informieren? (…) Der Appell "bleibt zu Hause" muss durch Regeln bei der Ausgangsbeschränkung untermauert werden. Die Polizei ist am Limit. Danke und herzliche Grüße. Dein Olaf.

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Von Löwis ist kein Einzelkämpfer. Deutschlands Winterorte werden von Ausflugstouristen gerade regelrecht überrannt. Meldungen vom vergangenen Wochenende: Im Sauerland riegelt die Polizei Zufahrtsstraßen nach Winterberg ab. Nach Oberhof in Thüringen sollen nur noch Leute kommen, "die hier wohnen oder arbeiten oder ein berechtigtes Interesse haben", wie es der Bürgermeister ankündigt. Stauchaos auf der B4 im Harz. In Willingen, hessischer Taunus, bereiten sie ein Betretungsverbot für Skipisten und Rodelhänge vor. Auch in Gunzesried im Allgäu wurde bereits eine große Zubringerstraße gesperrt.

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Foto: Fabian Huber
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Schickte einen Hilferuf an Markus Söder: Landrat Olaf von Löwis.

Ab Montag gelten in Deutschland nochmals verstärkte Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen. Die Verantwortlichen in den Skigebieten befürchten an diesem Wochenende den Sturm vor der Ruhe. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann kündigt an: "Die Menschen müssen wissen, dass wir sie wieder nach Hause schicken, wenn es im Schwarzwald oder auf der Schwäbischen Alb zu voll wird."

Auf von Löwis’ Hilferuf antwortete Söder mit einem Zweizeiler: Ob man denn nicht Betretungsverbote erlassen könne? Der Landrat lässt das prüfen. Am vergangenen Dienstag drosselt die Polizei zum ersten Mal die Zufahrt zu den heillos überfüllten Parkplätzen des Spitzingsees.

Es ist ja kein neues Phänomen. Seit jeher zieht die Schönheit der Region die Menschen an, als liege ein überdimensionaler Magnet auf dem Grund des Sees. "Tourismus ist bei uns Leitökonomie", sagt von Löwis. Aber während eines Lockdowns? Bei all den Appellen der Politiker, zu Hause zu bleiben? Wo die Ärzte im nahen Kreiskrankenhaus Agatharied alles gebrauchen können, aber doch bitte keine unnötigen Knochenbrüche von Touristen?

In der nahen Klinik sind alle Beatmungsbetten belegt

Die Bilanz vom Dreikönigstag: 22 Unfallpatienten in der Klinik, etwa die Hälfte von Ausflüglern, die allermeisten Schlittenfahrer. "Ganz offensichtlich waren viel mehr Rodler unterwegs als in den vergangenen Jahren", sagt Michael Kelbel, Geschäftsführer des Krankenhauses. Aufgrund der besonderen Hygienevorkehrungen vor Ort sei das mindestens "herausfordernd".

Gleichzeitig sind aktuell alle 14 Beatmungsbetten auf der Intensivstation belegt. Was das für Notfälle auf der Skipiste bedeuten würde, bei denen jede Minute zählt, kann man sich leicht ausmalen. "Ich habe mich hauptsächlich wegen der Sorge vor Überlastung im Krankenhaus an den Ministerpräsidenten gewendet", sagt Landrat von Löwis.

Kontakte und Mobilität einschränken – das ist das Credo, mit dem die deutschen Landesfürsten und Bundeskanzlerin Angela Merkel Corona eindämmen wollen, vor allem im Hinblick auf den Tagestourismus. Eine der neuen Bestimmungen lautet zunächst: Liegt die Inzidenz im eigenen Landkreis über 200, dürfen sich die Bewohner mit Ausnahme von Job, Einkaufen oder Familienbesuchen ab Montag nicht mehr als 15 Kilometer von ihrem Wohnort entfernen.

Die umstrittene 15-Kilometer-Regel soll nachgebessert werden

Das hätte zu grotesken Rechenspielen geführt: Ein Bad Reichenhaller aus dem Berchtesgadener Land, wo der Schwellenwert aktuell bei über 250 liegt, hätte dann nicht mehr an den Königssee fahren dürfen, aber der Regensburger oder Freisinger eben schon.

Am Freitag verkündet Söder im Landtag, die Regelung nachbessern zu wollen. Landkreise mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 200 sollen nun die Möglichkeit erhalten, den Besuch von Tagestouristen in ihrem Gebiet zu untersagen, um vor Ort Gleichbehandlung herstellen zu können. Von Löwis sagt dazu: "Ich bin froh und dankbar. Wenn wir über 200 kommen, was nicht abwegig ist, würden wir eine Allgemeinverfügung zur Beschränkung des Ausflugsverkehrs erlassen."

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Allerdings: Die meisten Gegenden in Bayern sind derzeit ein gutes Stück davon entfernt, die 200er-Marke zu reißen. Und auch am Spitzingsee wird sich zunächst nichts ändern. "Letztlich wären wir selbst gezwungen zu prüfen, was wir machen können, um den Verkehr zu reduzieren", so der Landrat.

Am See ist es an diesem Tag trüb, die Parkplätze sind deshalb nicht restlos zugestellt. Voll ist es trotzdem. Eine Gruppe Eisstockschützen, ein gutes Dutzend, Kontaktbeschränkung egal, hat es sich mit Campingstühlen gemütlich gemacht. Auf dem Wasserkocher brodelt eine rote Brühe. "Kinderpunsch", flachst einer.

Böse Warnungen an die Münchner Tagestouristen

Ein Eishockeyspieler aus Waakirchen im westlichen Kreis Miesbach sagt: "Ich finde es einfach gut, wenn man sich trotz der Zeit noch mit jemandem trifft. Wir kennen uns alle. Wäre jetzt hier ein Fremder, wäre das was anderes. Aber draußen ist die Gefahr, glaube ich, recht gering." Mit etwa 15 Männern jagt er dem Puck und dem Gegner hinterher. Sie kommen aus ganz Bayern.

Auf der anderen Seeseite. "Hey, bisschen Abstand!", schallt es spöttisch über das Eis. Ein Pärchen küsst sich innig. Ein Spaziergänger pfeift die Melodie von Abbas Waterloo. An einem Punschstand spaziert ein Paar aus Traunstein. Die zwei sagen: "Schrecklich! Die Münchner haben doch selbst genug Platz!"

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Foto: Fabian Huber
Foto: Fabian Huber

Am vergangenen Dreikönigstag: Die Polizei wagt sich aufs Eis, spricht aber keine einzige Verwarnung aus.

Jaja, die Münchner, die größten Reizfiguren am Spitzingsee. Nach dem Jahreswechsel stellten wütende Einheimische ein Schild an den Ortseingang in Miesbach. Darauf in tiefem Dialekt: "An olle Stodara, bleibts dahoam wos hi gherts, und blockierts ned ois ihr lupenreinen idis." Weil die Landeshauptstadt im ländlichen Bayern ohnehin als preußische Exklave gilt, steht die Botschaft daneben, verbildlicht mit ausgestrecktem Mittelfinger und Münchner Kennzeichen, auch noch mal auf Hochdeutsch: "Verpisst Euch!!! Wir wollen euch nicht…"

"Eklatant blöd", nennt Landrat von Löwis solche Aktionen. Er sieht drei Gruppen in der Bevölkerung. Die, die vom Tourismus leben. Die, die unter dem Durchgangsverkehr leiden und von denen, ja, ein winziger Teil Schilder aufstellt oder den Münchnern böse Botschaften in den Schnee auf der Windschutzscheibe malt. Und diejenigen, die zwischen den Stühlen sitzen.

In den letzten Tagen war am Spitzingsee der Teufel los

So wie Mathias Schrön. Der Gästeinformationsleiter der Gemeinde Schliersee, zu der auch der Spitzingsee gehört, sitzt in seinem Büro in einem leeren Erlebnisbad. "Als Touristiker kannst du gerade nur alles falsch machen", sagt er. Seine Stimme sucht nach Halt, wenn er darüber spricht, was es hier alles geben würde – ohne Corona. Das Seefest. Das Bauerntheater. Den Schliersee-Triathlon. Hach.

Schrön ist ein Kind der Region. Geboren am Tegernsee, zur Schule gegangen in Miesbach, studiert in München. "Ich verstehe jeden Einzelnen, der hierher will. Aber die Lage ist ernst. Wir gewinnen nur gemeinsam gegen die Pandemie. Deshalb kann ich nur an die Vernunft appellieren." Viele würden gerade anrufen, fragten etwa, ob die Langlaufloipen schon gezogen sind. Die meisten aus der Metropolregion München. Aber erst letztens auch welche aus Nürnberg. Nürnberg, 236 Kilometer bis zum Spitzingsee, fast drei Stunden Autofahrt.

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Foto: Fabian Huber
Foto: Fabian Huber

"Ich kann nur an die Vernunft appellieren": Gästeinformationsleiter Mathias Schrön.

Vor genau einem Jahr, am 6. Januar 2020, kamen etwa 10.000 Ausflügler. Da war die touristische Infrastruktur geöffnet. Schrön hat das anhand von Handydaten auswerten lassen. Jetzt, zwischen den Feiertagen, im Lockdown, kamen wohl 15.000 täglich, schätzt er.

Es ist schon paradox, was da passiert. Die Alte Wurzhütte am Ufer ist verrammelt, die Hotels sind zu, die "durchgehend warme Küche" auf der Lyra Alm ein uneinhaltbares Versprechen, der Sessellift der Alpenbahn gesperrt. Ingo Brockmann, seit 1994 selbstständiger Skiverleiher, erzählt, dass er statt 5000 nun 100 Euro Tagesumsatz mache, weil er nur noch Schlitten verleihen dürfe, dass er drei Mitarbeiter entlassen habe und vor dem Aus stehe. Und auf dem Parkplatz vor der Piste wuchten die Massen Kinderbobs, Snowboards und Skier aus dem Kofferraum. Muss ja weitergehen.

Am selben Tag wird Markus Söder noch einmal einen Gruß nach Miesbach schicken. Pressekonferenz in München, es geht um die bayerische Ausführung der bundesweiten Beschlüsse. Er verstehe ja, dass die ein oder andere Region belastet sei und erwähnt explizit von Löwis’ Landkreis. "Aber das muss man schon vernünftig miteinander machen. Schilder, die da aufgestellt werden, helfen jetzt wenig, zumal man in guten Tourismuszeiten auch froh ist, wenn die alle da sind." Der Bewegungsradius werde ab Montag kontrolliert werden. "Es muss ja praktikabel sein", sagt Söder.

Die Polizisten sprechen keine einzige Verwarnung aus

Doch praktikabel erscheinen die Corona-Kontrollen am Spitzingsee schon jetzt nicht. Um 14 Uhr parkt ein Kastenwagen der Bereitschaftspolizei am Ufer, Bamberger Kennzeichen, Unterstützung für diese Woche. Die Polizei vor Ort sei personell überfordert, sagt von Löwis.

"Dann zahlen wir halt die Strafe, wenn der Staat es so will", murmelt ein Familienvater, als er die vier Beamten anmarschieren sieht. Es geschieht: nichts. Die Polizei wagt sich aufs Eis, spaziert durch die Ausflugsgruppen, das Dutzend Eisstockschützen, die Eishockeyteams, die sogar Ersatzspieler haben. Nicht eine einzige Verwarnung gibt es wegen zu geringer Abstände oder der Nichteinhaltung der Kontaktbeschränkung.

Die Polizisten vor Ort verweisen pflichtgemäß auf die Pressestelle. Aus dem zuständigen Polizeipräsidium Oberbayern-Süd lässt ein Sprecher wissen: "Wir kommen punktuell an unsere Grenzen." Hauptsächlich aber wegen der chaotischen Verkehrsverhältnisse, nicht wegen Verstößen gegen das Infektionsschutzgesetz. Liegt Letzteres womöglich an der laschen Kontrolle am Spitzingsee? "Ich will das vom Büro aus nicht beurteilen. Vielleicht ist es irgendwann auch zu viel, wenn man den ganzen Tag unterwegs ist, und man wird betriebsblind."

Politische Maßnahmen, die ins Leere laufen könnten; eishockeyhungrige Münchner; eine Polizei, die schon mal beide Augen zudrückt: Für die kommenden Wochen am schönen Spitzingsee verheißt das nichts Gutes.

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