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100 Jahre Freistaat Bayern: Die 105-jährige Christina Feindel erzählt vom frühen Freistaat

100 Jahre Freistaat Bayern

Die 105-jährige Christina Feindel erzählt vom frühen Freistaat

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    Die 105-jährige Christina Feindel sitzt lachend in ihrem Zimmer in einem Pflegeheim. Sie ist eine der letzten Zeitzeugen, welche die Revolution in Bayern 1918 miterlebten.
    Die 105-jährige Christina Feindel sitzt lachend in ihrem Zimmer in einem Pflegeheim. Sie ist eine der letzten Zeitzeugen, welche die Revolution in Bayern 1918 miterlebten. Foto: Stefan Puchner, dpa

    Im April 1913 ist die Welt noch in Ordnung. Das letzte Friedensjahr vor dem Großen Krieg. Und in Augsburg wird Christina Plank geboren, als ältestes Kind eines kaufmännischen Angestellten der Firma MAN und einer Hausfrau. "Es war eigentlich eine schöne Zeit, a schöne, sonnige Kindheit", erinnert sich Christina Feindel, wie sie heute heißt. 105 Jahre alt ist die Mutter, Großmutter und Urgroßmutter nun. Gerade hat sie Namenstag gefeiert, bunt leuchten die Zahlen 1, 0 und 5 auf dem Tisch. Und sie hat die Anfänge des Freistaats Bayern miterlebt, der heuer 100 wird.

    Die Augsburgerin Christina Feindel erinnert sich an Englische Fräulein

    Wenn die alte Dame, die heute in einem Seniorenheim bei Augsburg lebt, von ihrer Kindheit erzählt, dreht sich fast alles um die glückliche Schulzeit. Bei Maria-Ward-Schwestern, den "Englischen Fräulein", ist sie gewesen, in Kindergarten und Volksschule, später im Lyzeum, nur unter Mädchen. 1662 wurde die Schule gegründet, 1687 zog man an den heutigen Standort. Ihr Lieblingsfach? "Gymnastik und Turnen", lächelt sie verschmitzt. Und die feinen Runzeln, die ihr Gesicht überziehen, scheinen zu tanzen. Auch der Musikunterricht, etwa an der Violine, ist ihr in Erinnerung. "Das war für Mädchen sehr interessant, dass man das so klein schon lernen durfte." 

    Theater gespielt wurde mit den Schülern von St. Stephan, wo die Padres mit langen Kutten ihr strenges Regiment führten. Die Kapuziner dagegen "mit langen weißen Bärten" hätten auch mal Semmeln oder Brotstücke an arme Kinder verschenkt. "Die Klöster haben damals für viel Anstand in der Bevölkerung gesorgt", urteilt Feindel. "Gut und streng erzogen, zu ganz brauchbaren Menschen" wurden sie und ihre Mitschülerinnen von den Englischen Fräulein. Da gehörte auch schon mal eine Ohrfeige dazu. Und auch die Beichte musste regelmäßig sein. 

    Feindels Vater arbeitete sein Arbeitsleben lang für die MAN

    Der Freistaat, den Kurt Eisner 1918 ausgerufen hatte, kurz bevor Feindel in die Schule kam, war zwar mal Thema in der Schule. Später sei man auch recht stolz darauf gewesen, aber ansonsten scheint die neue Staatsform, die die Monarchie ablöste, die Kinder kaltgelassen zu haben. "Die Eltern haben das vor den Kindern zurückgehalten", erklärt Feindels Sohn Klaus. 

    "Das Familienleben war sehr intakt", religiös geprägt. Die Schule, erzählt Christina Feindel mit klarer, fester Stimme, lag mitten in der Stadt am Dom. "In der Früh war ein Riesenbetrieb auf den Straßen", viele Industriebetriebe befanden sich in der Gegend, wo die Familie wohnte. 1908 waren Vereinigte Maschinenfabrik Augsburg und Maschinenbaugesellschaft Nürnberg in MAN umbenannt worden. Der Vater war sein ganzes Arbeitsleben lang bei MAN und konnte vom Bürofenster seine Kinder auf dem Schulweg sehen. 

    An Weihnachten - "das war ganz romantisch" - wurde erst die Krippe in St. Sebastian besucht. Was das Christkind brachte, blieb streng geheim. "Wir durften vorher Wünsche äußern, welche Puppe wir haben oder wo wir hinfahren wollten. Geld haben wir ja nicht en masse gehabt." Von ihren Eltern, ergänzt Klaus Feindel, wurden seine Mutter und ihre Geschwister aufs Land geschickt, "zum Betteln, dann haben sie den Bauern Schuhcreme gebracht, in der Hoffnung auf Kartoffeln". Darüber, nimmt der Sohn an, möchte seine Mutter nicht mehr sprechen.

    Christina Feindel hält ein Porträt ihres Ehemannes Karl Feindel in den Händen. Die 1913 in Augsburg geborene Feindel ist eine der letzten Zeitzeugen der Revolution in Bayern 1918.
    Christina Feindel hält ein Porträt ihres Ehemannes Karl Feindel in den Händen. Die 1913 in Augsburg geborene Feindel ist eine der letzten Zeitzeugen der Revolution in Bayern 1918. Foto: Stefan Puchner, dpa

    Christina Feindel zu Adolf Hitler: "Damit wollten wir nichts zu tun haben"

    Aber wie es während der Inflation war, als das Brot Millionen kostete, daran kann sich Christina Feindel noch gut erinnern. "Das hat uns schon sehr betroffen." Verwandte der Familie hatten eine Bäckerei an der Maximilianstraße gehabt. "Da mussten wir jede Woche, meine Schwester und ich, in die Stadt laufen und Brot holen, da gab's kein Geld für die Straßenbahn." In München etwa wurden im Oktober 1923 für eine gewöhnliche Semmel 5 Millionen Mark verlangt. Für ein Brot musste man mit 40 Millionen noch tiefer in die Tasche greifen.

    Später dann hörte man auch von Adolf Hitler, etwa wegen des Putsches 1923, von Straßenschlachten, über die die Zeitung berichtete. "Damit wollten wir nichts zu tun haben", sagt die 105-Jährige lakonisch. "Das ist von den wenigsten verstanden und kapiert worden, was da jetzt passiert." Die Eltern hätten versucht, ihre Kinder so weit wie möglich aus der Politik rauszuhalten - es sei wohl nicht viel darüber gesprochen worden, glaubt Klaus Feindel. 

    Christina Feindel wurde Chefsekretärin, das Studium verwehrte ihr der Vater - dann hätte er es auch den Geschwistern erlauben müssen. Sie heiratete. 14 Tage vor Kriegsende, betont Klaus Feindel, ist sein Vater gefallen. Durch die Kriegsjahre hindurch, bei jeder Flucht in den Bunker, sei eine Madonnenfigur im Rucksack seiner Mutter gewesen. Heute hängt sie in Christina Feindels Zimmer an der Wand. Der Blick aus dem Fenster geht auf die schwäbischen Wiesen - und manchmal fast 100 Jahre zurück, als der Freistaat noch jung war, wie sie selbst. (von Martina Scheffler, dpa/lby)

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