Der Anruf muss der 58-Jährigen durch Mark und Bein gegangen sein. Die Stimme am anderen Ende der Leitung erzählt von der Tochter der Frau aus Bad Wimpfen (Kreis Heilbronn). Diese habe ein Kind überfahren, auch ein angeblicher Staatsanwalt ist am Apparat, ein vorgeblicher Verteidiger wird ebenfalls zugeschaltet. Der Tochter drohen Jahre hinter Gittern, heißt es, wenn nicht bald eine Viertelmillion Euro als Kaution überwiesen werde, auch Schmuck und Goldbarren werden gefordert.
Spätestens da muss die Frau den Braten gerochen haben, sie kennt diese Betrugsmasche und dreht den Spieß um. Bei der vermeintlichen Geldübergabe in Heilbronn überreicht sie keine Beute, sondern nur eine Tasche mit einem 100-Euro-Schein und einer Chipstüte, dann schlägt die Polizei zu. Am Mittwoch wurde die 33-Jährige Betrügerin, eine staatenlose Mutter mit zwei Kindern und ohne Schulabschluss, vom Heilbronner Amtsgericht wegen versuchten bandenmäßigen Betrugs zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt.
Sie hat bereits Erfahrung in dem Milieu: Im November 2021 wurde sie in Köln wegen einer ähnlichen Tat zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt, das Urteil ist aber noch nicht rechtskräftig.
Alles andere als ein Einzelfall - allzu oft gehen die Opfer den Betrügern auf den Leim: Die Zahl der sogenannten Schockanrufe bei vornehmlich älteren Menschen ist in den vergangenen Jahren förmlich explodiert. Innerhalb von nur fünf Jahren sei sie von 17 bekannt gewordenen Anrufen im Jahr 2017 auf zunächst 319 Fälle im Jahr 2020 und sogar 2157 registrierte Fälle im Jahr darauf hochgeschnellt.
Das Ende ist damit nach Angaben des Innenministeriums bei weitem nicht erreicht: "Für das Jahr 2022 zeichnet sich bislang ein Anstieg der betrügerischen Anrufstraftaten ab", teilte die Behörde mit. Außerdem ist die Dunkelziffer Experten zufolge sehr hoch, weil sich viele Opfer schämen und keine Anzeige erstatten. Genaue Zahlen sollen erst mit der Polizeilichen Kriminalstatistik im Frühjahr bekannt werden.
Beim sogenannten Enkeltrick melden sich angebliche Verwandte wegen eines vorgetäuschten finanziellen Engpasses oder weil sie für den sofortigen Kauf einer Immobilie Geld benötigen. Die Zahl dieser Art von Anrufe sinkt weiter.
Bei der Masche "Schockanruf" rechnen Betrüger hingegen skrupellos mit der Schockstarre erschütterter Opfer. Die Kriminellen - sogenannte Keiler - täuschen als angebliche Kinder, Enkel, vermeintliche Polizeibeamte oder Rechtsanwälte eine Notlage oder gar die Lebensgefahr des Angehörigen vor und treiben ihre Opfer durch eine manipulative Gesprächsführung, den Aufbau eines Drohszenarios und durch Zeitdruck massiv in die Enge. Der Soziologe Christian Thiel, der an der Uni Augsburg unter anderem die Hintergründe von Betrugstaten erforscht, spricht von einem "Werkzeugkasten mit typischen Täuschungstaktiken, die sie wie Bausteine zu unterschiedlichen Betrugsmaschen zusammensetzen".
Nach Angaben des Landeskriminalamtes (LKA) spielte während der Pandemie eine plötzliche schwere Erkrankung am Coronavirus eine Rolle, oft geht es aber auch um den tödlichen Verkehrsunfall eines Bekannten oder die drohende Inhaftierung im Ausland. Die Täter erkundigen sich nach Bargeld, Münzen oder Schmuck, die der Angehörige dann etwa einem vermeintlichen Staatsanwalt oder Polizisten übergeben soll. Oft holten auch vom "Keiler" oder einem "Logistiker" beauftragte "Läufer" Geld oder Wertgegenstände selbst an der Haustür des Betroffenen ab. Ihre Belohnung: für gewöhnlich zehn Prozent der Beute.
Die überaus meisten Anrufe kommen aus dem Ausland, fast immer trifft es ältere Menschen. Die organisierten Banden machen dabei enorme Beute - zum Teil im sechsstelligen Bereich, weil so mancher Senior seine gesamten Ersparnisse aushändigt: Geld, Schmuck, ja sogar Goldbarren wechselten auf diese Weise den Besitzer.
Insgesamt ein lukratives Vorgehen: Nach Angaben des Innenministeriums erbeuteten die meist unbekannten Anrufer durch Anrufe als "falsche Polizisten" oder "Enkel" sowie durch besagte sogenannte Schockanrufe im Jahr 2021 insgesamt rund 15,2 Millionen Euro (2020: 14,4 Mio.). Die meisten Anrufe (rund 96 Prozent) bleiben aber erfolglos.
Innenminister Thomas Strobl (CDU) kennt das Phänomen aus dem eigenen Bekanntenkreis: "Eine Mutter, die wirklich tough ist und mit beiden Beinen fest im Berufsleben steht, wurde angerufen, ihre Tochter habe im Ausland einen schweren Verkehrsunfall verursacht und sitze in Untersuchungshaft", erinnert er sich. Menschen würden in einen Ausnahmezustand versetzt durch die Angst um das, was ihnen am liebsten sei - ihre Familie, ihre Freunde. "Die Vernunft wird durch den Schock ausgeschaltet", sagt Strobl der Deutschen Presse-Agentur. "Wie fremdgesteuert heben da auch wirklich gestandene Menschen unter Schock große Geldsummen von der Bank ab."
Gefragt sind aus seiner Sicht nicht zuletzt die Geldinstitute: "Wir brauchen da auch den Bankangestellten, der mitdenkt, der zweifelt und der misstrauisch wird und nachfragt, wenn da eine ältere Kundin von ihm mit Schweißperlen auf der Stirn, leichenblass und mit zittriger Hand 50.000 Euro abheben möchte", sagt Strobl. "Da ist Einfühlungsvermögen, gesunder Menschenverstand und Kundenbindung gefragt."
(Von Martin Oversohl und Nico Pointner, dpa)