Mit einer umfangreichen Studie und der Befragung von Zeitzeugen arbeitet die Caritas im Bistum Mainz das Unrecht in ihren früheren Kinderkurheimen auf. Die meisten Kinder in den Heimen im hessischen Bad Nauheim und in Allerheiligen im Schwarzwald seien während ihres wochenlangen Aufenthalts kontrolliert, eingeschüchtert und gedemütigt worden, berichtete Diözesancaritas-Direktorin Nicola Adick in Mainz. Es habe auch Schläge und sexualisierte Grenzerfahrungen für die Kinder gegeben.
Als Träger dieser früheren Einrichtungen übernehme die Caritas im Bistum Mainz Verantwortung für die Vorkommnisse. "Wir arbeiten Geschichte auf und machen Unrecht sichtbar", sagte Adick. Nach den Recherchen für die Studie waren insgesamt rund 15.000 Kinder in der Kinderheilstätte Bad Nauheim untergebracht. In Allerheiligen werde die Zahl der Kinder auf mehr als 20.000 Kinder geschätzt. Sie stammten aus verschiedenen Teilen Deutschlands, viele aus dem Gebiet des Bistums Mainz und aus der Region Westfalen-Lippe.
20 ehemalige Kurkinder berichten von Erfahrungen
Vorgelegt wurde die Studie "Aufarbeitung und Dokumentation" vom Büro für Erinnerungskultur in Babenhausen. Der Historiker Holger Köhn hatte dafür nach eigenen Angaben ein Jahr lang in verschiedenen Archiven recherchiert. Auf einen Aufruf hin hätten sich außerdem 20 ehemalige Kurkinder aus St. Josef und Allerheiligen gemeldet und sich für Interviews bereit erklärt. Diese Zeitzeugen berichteten, dass sie die Erlebnisse und Ängste aus der Zeit noch immer begleiten.
Das Kinderkurheim Allerheiligen im Schwarzwald war von 1947 bis 1978 in Trägerschaft des Caritasverbands für die Diözese Mainz. Von 1926 bis 1964/68 war der Verband für die Kinderheilstätte St. Josef in Bad Nauheim in Hessen verantwortlich. Kinder und Jugendliche sollten sich dort erholen. Bundesweit wurden nach Schätzungen der Caritas seit den 1950er Jahren bis in die 1980er Jahre hinein zwischen acht und zwölf Millionen Kinder zur Erholung in solche Kureinrichtungen geschickt und haben ebenfalls Leid erfahren.
Auch Geistliche des Bistums Mainz beteiligt
Es sei wichtig, sich der Vergangenheit zu stellen, betonte Stephanie Rieth, Bevollmächtigte des Generalvikars. Verantwortlich für die beiden Kinderkurheime seien Caritas-Führungskräfte gewesen, die in der Regel zugleich Geistliche des Bistums Mainz waren. Teils seien Ordensmitglieder vor Ort zuständig gewesen. "Auch als Bistum Mainz übernehmen wir Verantwortung."
Bereits die Aufarbeitungsstudie "EVV - Erfahren. Verstehen. Vorsorgen", die das Bistum Mainz in Auftrag gab, habe gezeigt, dass kein Mensch auf ein Podest gehöre. Stattdessen sei ein umfassendes Compliance-Verständnis, eine Kultur der Achtsamkeit mit transparentem Handeln auf allen Ebenen nötig, sagte Rieth. Nach der im Vorjahr vorgestellten Untersuchung sind im Bistum Mainz jahrzehntelang Fälle von sexueller Gewalt nicht konsequent verfolgt, teils verschwiegen und verharmlost worden.
Das Bistum Mainz liegt zu etwa zwei Dritteln auf hessischem und zu einem Drittel auf rheinland-pfälzischem Gebiet und zählte zuletzt gut 700.000 Kirchenmitglieder.
(dpa)