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Zwischen Höhenangst und Traumwohnung: Ein Besuch im Hotelturm Augsburg

Zwischen Höhenangst und Traumwohnung: Ein Besuch im Hotelturm
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Zwischen Höhenangst und Traumwohnung: Ein Besuch im Hotelturm

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    Der beste Aussichtspunkt der Stadt gefällt nicht jedem. "Manche haben Probleme damit", sagt Jan Schwaiger, während er auf einer schmalen Metallleiter nach oben steigt. Der Haustechniker des Hotelturms nimmt die letzte Sprosse, schreitet durch eine schmale Dachluke und da steht er: am höchsten Punkt der Stadt. Ein paar Meter neben ihm: der Abgrund.

    Schwaiger, schwindelfreier Schwabe, hat sich Zeit genommen für eine Führung durch den Hotelturm. Normalerweise repariert er Heizungen und Wasserschäden im Turm. Aber weil der Hotelturm 50 Jahre alt wird, hat der 39-Jährige seinen Schlüsselbund mitgenommen und sperrt an diesem Junitag Schlösser auf, die sonst verschlossen bleiben, wie etwa den Zugang zum Dach. Von hier aus sieht er auf Augsburg herunter. Auf den Gaskessel im Norden, die Messe im Süden. Über ihm: die Antenne, ein Koloss aus Stahl und Carbon.

    Höher kann er nicht mehr steigen, zumindest, solange die knapp 50 Meter hohe Antenne in Betrieb ist. "Die ersten fünf Meter gingen noch, aber dann bist du in der roten Zone", sagt Schwaiger. "Da würdest du zu kochen anfangen. Das wäre das Gleiche, als würdest du deinen Kopf in die Mikrowelle stecken." Dann doch lieber unten bleiben. Von hier aus – 116 Meter über dem Wittelsbacher Park – wird klar: Der Hotelturm ist ein Gebäude der Superlative.

    "Interessanter wäre der Turm, wenn er eine gewisse Schräglage aufweisen würde"

    1972 errichteten Bauarbeiter den Turm in einer Rekordzeit von knapp elf Monaten, um Athletinnen, Athleten und Gäste der Olympischen Spiele 1972 beherbergen zu können. Das Bauwerk löste in Augsburg zwiespältige Reaktionen aus. Der Augsburger Maler Otto Geiss sagte: "Die Optik gefällt mir" – um dann einen Satz anzufügen, der das Potenzial gehabt haben dürfte, Architektinnen und Statiker aufschrecken zu lassen: "Interessanter wäre der Turm noch, wenn er eine gewisse Schräglage aufweisen würde." Und der damalige Oberbürgermeister Wolfgang Pepper befand: "Schade, dass der Turm nicht noch um ein paar Etagen höher gebaut wurde." Damit spielte er wohl auf das architektonische Vorbild des Hotelturms an: die 179 Meter hohen Twin Towers in Chicago.

    Doch egal ob 179 oder 116 Meter – noch heute wohnen viele Menschen wegen der Aussicht im Turm. Manche nur für ein paar Nächte, etwa im Vier-Sterne-Hotel Dorint, das Zimmer zwischen dem ersten und elften Stock anbietet sowie ganz oben in der 34. Etage. Andere leben oder arbeiten im Hotelturm: Akademiker, Arbeitslose und ganz oben sogar ein Magier. Ein Blick in ihre Wohnungen zeigt: Sie leben alle völlig unterschiedlich. Doch in einem sind sie gleich: Ihr Weg führt sie täglich an Frau Mues vorbei.

    Erdgeschoss – Frau Mues und die Sicherheit
    Erdgeschoss – Frau Mues und die Sicherheit Foto: Timian Hopf

    Silvia Mues bestimmt seit mehr als zehn Jahren, wer in den Hotelturm hereinkommt. Drückt sie die Tasten auf einem kleinen Kästchen, das vor ihr liegt, öffnet sich die Eingangstür zum Hotelturm und ein Aufzug fährt ins Erdgeschoss. Drückt sie nicht, kommt niemand ins Haus, der keinen eigenen Schlüssel besitzt.

    Mues empfängt Besucherinnen, nimmt die Pakete der Bewohner an, hört zu. Die Augsburgerin sieht sich als die gute Seele des Hauses, als "Mädchen für alles, aber auch Sozialarbeiterin". Sie spricht langsam und leise. Und dennoch: "Manchmal muss man durchgreifen", sagt sie. Etwa dann, "wenn Leute mit Fahrrädern reinkommen und meinen, sie müssten den Lift benutzen." Die Augsburgerin sagt dann ganz freundlich: "Bitte benutzen Sie den Lastenaufzug." Sie kennt zwar fast alle Bewohnerinnen und Bewohner, aufs "Sie" legt sie dennoch wert. "Da bin ich ein bisschen konservativ", sagt Mues.

    Mues hat ihren Job auch der schlechten Vergangenheit des Hotelturms zu verdanken. Früher gingen Jugendliche im Hotelturm ein und aus, besprühten die Spiegel im Aufzug. Außerdem hielten sich Prostituierte und Zuhälter im Gebäude auf. "Es ging zu wie bei den Hottentotten", erzählt Haustechniker Schwaiger, der die Geschichten von seinem Vater kennt, der lange im Turm arbeitete. Und es gab Menschen, die sich mit Fallschirmen vom Turm stürzten. "Früher haben wir auch Basejumper gehabt. Die sind hergefahren, rein, haben bei der Dachluke das Schloss aufgezwickt, sind vom Dach runter, im Park gelandet, ins Auto und weg."

    Das geht jetzt nicht mehr. Weil jede Etage im Turm videoüberwacht wird, acht Kameras pro Flur. Und weil Frau Mues ihre Tasten nur drückt, wenn sie Bewohnerinnen oder Gäste kennt.

    Etage 15 – Mona und das Eigenheim
    Etage 15 – Mona und das Eigenheim Foto: Timian Hopf

    So wie Mona Altstetter. Die 24-Jährige wohnt seit sechs Jahren im Hotelturm. Der Ringflur vor ihrer Wohnung gleicht den meisten anderen im Haus: Teppichboden, kastanienbraune Wohnungstüren, Fahrstuhlmusik. Ein bisschen wie eine Zeitreise in die 1970er Jahre – eine Mischung aus Gerüchen inklusive: "Die einen sind Raucher, die anderen kochen Schupfnudeln. Das riecht man", sagt Altstetter.

    Wer ihre Fußmatte mit dem Aufdruck "Get naked" (auf Deutsch: "Mach dich nackig") überschreitet, kommt wieder in die Gegenwart zurück. Weiße Ikea-Möbel, viele Pflanzen, Fotos von Reisen nach Norwegen und England. Altstetter hat die Wohnung gekauft, Wände herausreißen, die Küche ersetzen lassen. "Es war mir super wichtig, Bilder vom Umbau zu machen", sagt sie, während sie durch ein Fotoalbum blättert. "Ich dachte mir: Es glaubt mir sonst niemand, wie die Wohnung davor aussah." Dunkel, altmodisch, in die Jahre gekommen.

    Ihre Wohnung ist eine Besonderheit, sie besteht aus zwei Zimmern. Die meisten Wohnungen im Haus messen nur 34 Quadratmeter. Etwa jene von Nakić Avdić, der gemeinsam mit seiner Frau in der 23. Etage lebt. Zu zweit auf so engem Raum, geht das? "Es ist ein Experiment", sagt der gebürtige Bosnier. Seine Frau und er schieben Möbel hin und her, um Platz zu schaffen. Aber immerhin: "Man kann schnell aufräumen", sagt Avdić und lacht.

    Er genießt die Aussicht, ebenso wie Mona Altstetter, die sagt: "Ich sehe die Berge, ich hab die schönsten Sonnenuntergänge hier." Nur nach unten auf das baufällige Parkhaus schaut sie ungern. "Von oben schaut's einfach nur hässlich aus", sagt sie. Vielleicht soll dort ein zweiter Turm entstehen, ein 60-Meter-Hochhaus direkt auf dem Parkhaus. Altstetter will das auf keinen Fall, sie sagt: "Wenn die mir die Aussicht verbauen, wohne ich hier nicht mehr."

    Etage 18 – Herr Schwaiger und das fehlende Stockwerk
    Etage 18 – Herr Schwaiger und das fehlende Stockwerk Foto: Timian Hopf

    Es geht weiter nach oben. Insgesamt sechs Aufzüge gibt es im Hotelturm, zwei fürs Dorint, zwei für die Bewohner, einen Lasten- und einen Feuerwehraufzug. Aber nur einer fährt in die 18. Etage. Haustechniker Schwaiger zückt die Schlüssel, öffnet eine schwere Metalltüre und führt an einen menschenleeren Ort – das Technikgeschoss. Statt moderner Technik stehen hier alte Anlagen für Lüftung, Heizung und Wasser. Staubige graue Klötze aus einer anderen Zeit.

    Über der Decke schlängeln sich dicke weiße Rohre, am Boden bahnt sich Schwaiger einen Weg durch schmale Gänge und niedrige Flure. "Kopf einziehen", warnt er. Es ist stickig warm, aber erst im Winter wird es hier richtig heiß, wenn die Menschen im Turm die Heizung aufdrehen.

    Manchmal muss Schwaiger etwas reparieren. Er kennt den Turm schon lange und weiß, welches Ventil, welches Rohr, welcher Kessel Ärger machen. Aber was, wenn er eines Tages nicht mehr hier arbeiten wird? Im Technikgeschoss gibt es keine Anleitungen für die alten Maschinen. Schwaiger beginnt deswegen damit, Notizen auf den Geräten zu hinterlassen. Eine Art Hilfestellung für seine Nachfolger, die möglicherweise nur die Arbeit mit Computern gewöhnt sind.

    Viele Geräte im Hotelturm sind in die Jahre gekommen. Wie das garagentorgroße Haustelefon von 1968, das zeitgleich nur einen Anruf zwischen zwei Bewohnern zulässt. "Ich glaub, die spendiere ich dem Deutschen Museum", sagt Schwaiger. "Weil so was hat's Deutsche Museum noch nicht einmal gesehen."

    Etage 33 – Der Magier und der Weitblick
    Etage 33 – Der Magier und der Weitblick Foto: Timian Hopf

    Auch im 33. Stockwerk gibt es etwas zu sehen, das einmalig sein dürfte: die Wohnung des Magiers Randy Schmitz. Der wohl bekannteste Bewohner öffnet die Tür zu seinem Appartement. Er ließ die Wand zwischen zwei Wohnungen einreißen und so reihen sich Sofa, Schreibtisch und Bett an die lange Fensterfront. Schwarz-pinkes Sofa, rote Plüschdecke auf dem Bett, darüber die Skyline von New York. An den Wänden stehen Schränke mit Modellautos. So viele, dass der Mitte 50-Jährige sagt: "Damit könnte man ein Auto in der Luxusklasse kaufen."

    Der Zauberer, pechschwarze Haare, weißes Hemd mit dem Aufdruck "Dream" (auf Deutsch: "Traum"), lebt schon seit 1985 im Turm. Er mag die zentrale Lage, die Menschen im Turm ("Es ist sehr multikulti, es ist jede Altersklasse vertreten"), ein bisschen auch die Anonymität. Schmitz sagt: "Andere Menschen gehen auf den Berg hoch, um Ruhe von Berufsleben und Alltagsstress zu finden." Randy Schmitz findet sie hier – hundert Meter über Augsburg, seiner Heimatstadt.

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    Sie möchten mehr über den Hotelturm erfahren? In einer exklusiven Video-Serie führen Manuel Andre und Axel Hechelmann hinter die Kulissen des "Maiskolbens". Die erste Folge der Doku-Serie ist frei abrufbar, die Episoden zwei bis vier sind unseren Plus-Abonnentinnen und -Abonnenten vorenthalten.

    "Über den Dächern von Augsburg" ist bereits die dritte Video-Serie aus der Reihe "Augsburger Allgemeine Original". Im vergangenen Jahr drehten Andre und Hechelmann eine vierteilige Serie anlässlich des 500. Geburtstags der Fuggerei, der ältesten bestehenden Sozialsiedlung der Welt. Außerdem thematisierten sie in zwei Folgen den dramatischen Augsburger Polizistenmord von 2011.

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