Selina L. weiß genau, dass sie das Gespräch bereuen wird. Auch wenn es nur 30 Minuten sind. Länger reichen Kraft und Konzentration ohnehin nicht. Gut möglich, dass sie den Rest des Tages wie so oft im Bett verbringen muss. Im abgedunkelten Raum, ohne jegliche Ablenkung durch ein gutes Buch, eine Netflix-Serie oder einfach Musik, die sie früher so sehr geliebt hat. Trotzdem will sie an diesem trüben Novembervormittag am Küchentisch ihrer Eltern ihre Geschichte erzählen. Davon berichten, wie es ist, mit Long Covid zu leben. Am sogenannten chronischen Fatigue-Syndrom zu leiden. Davon, wie es sich anfühlt, mit 35 Jahren, in der Blütezeit des Lebens, in Frührente gehen zu müssen, während andere Karriere machen oder Familien gründen.
Früher war sie immer in Bewegung, heute kann sie oft kaum das Bett verlassen
Fotos aus dem früheren Leben der Augsburgerin zeigen eine junge, aktive Frau, die mitten im Leben steht. Beim Tennis, auf dem Fahrrad, beim Skifahren. Selina L. war immer in Bewegung, trainierte mehrmals die Woche, war gern mit Freunden unterwegs. Doch dann kam Corona. Als Grundschullehrerin infizierte sie sich gleich zu Beginn, in der ersten Welle im Frühjahr 2020, das erste Mal. Bis sie danach wieder auf den Beinen war, habe es einige Zeit gedauert, sagt sie. Im November folgte dann die nächste Coronainfektion.
Schließlich eine dritte. Und mit jeder Infektion schwand die Kraft der jungen, fitten Frau. „Ich werde immer schwächer, ich weiß nicht, wie lange ich noch arbeiten kann“, habe sie ihrer Mutter immer wieder gesagt, erzählt sie. Schließlich, im Herbst 2022, ging gar nichts mehr. Selina L. konnte das Bett kaum noch verlassen. In einer Klasse zu stehen und zu unterrichten, war völlig ausgeschlossen. „Ich habe mir überlegt, ob ich jetzt aufstehe und auf Toilette gehe oder ob ich mir was zu essen mache. Für beides hat die Kraft nicht gereicht.“ Ein Interview wie dieses zu führen, das wäre zu diesem Zeitpunkt völlig undenkbar gewesen. Teilweise, sagt Selina L., habe sie, ans Bett gefesselt, nicht einmal mehr klar denken können. „Man fühlt sich wie lebendig begraben.“
45.000 Euro hat sie aus eigener Tasche für spezielle Therapien ausgegeben
Dass es ihr inzwischen etwas besser geht als an ihrem Tiefpunkt, führt Selina L. vor allem auf die Therapien zurück, die sie erhält. Davor stand bei ihr, wie bei so vielen Long-Covid-Betroffenen, eine Ärzteodyssee. „Ich habe über ganz viel Eigenrecherche versucht, mir selbst zu helfen, obwohl es mir schon so schlecht ging.“ In der Covid-Ambulanz habe sie keine Termine bekommen, viele Privatärzte, die sie abklapperte, hatten auch keine Kapazitäten. „Ich kämpfe seit zwei Jahren an allen Ecken und Enden, es macht einen vor allem auch mürbe, dass verleugnet und nicht gesehen wird, wie es den Betroffenen geht“, sagt sie.
Schließlich hatte sie Glück und fand Spezialisten, die ihren Verdacht bestätigten: Die 35-Jährige leidet an Long Covid und einem chronischen Erschöpfungssyndrom. Mit speziellen Infusionen, Blutwäsche und anderen Therapien versuchen die Ärzte nun, ihren Zustand zu verbessern. Die Arztbesuche schlauchen die Augsburgerin. Und sind vor allem auch eine finanzielle Belastung. Denn viele dieser Therapien werden von der Krankenkasse nicht bezahlt. Mehr als 45.000 Euro haben Selina L. und ihre Eltern bisher aus eigener Tasche dafür ausgegeben. Doch nun stoßen sie alle langsam an Grenzen.
Freunde haben eine Spendenaktion ins Leben gerufen
Deshalb hat die beste Freundin der 35-Jährigen zusammen mit ihrem Mitbewohner vor Kurzem unter der Überschrift „Selina back to life“ einen Spendenaufruf auf der Onlineplattform Go fund me geteilt. Die junge Lehrerin ist ihnen dafür unendlich dankbar. Viele Betroffene müssten neben ihrer Krankheit damit kämpfen, dass sich die Menschen in ihrem sozialen Umfeld zurückziehen. „Aber ich kann mich zu 100 Prozent auf meine Familie und meine Freunde verlassen.“ Gemeinsam mit ihnen kämpft sie weiter. Natürlich, sagt sie, gebe es diese Phasen, in denen man sich sage: Ich kann nicht mehr. „Ich denke, das ist menschlich und normal. Aber ich habe Hoffnung auf Heilung. Wenn ich die nicht hätte, könnte ich das Ganze gar nicht durchstehen.“
Denn die Augsburgerin will sich wieder mit Freunden treffen können, ohne danach einen Crash zu erleiden. Will wieder laut Musik hören, so wie früher. Will zurück zu ihren Schülern. Und vor allem wieder auf eigenen Beinen stehen. Ihre Selbstständigkeit, die sei ihr immer sehr wichtig gewesen. Nun ist sie, als erwachsene Frau, wieder oft auf die Hilfe von anderen angewiesen. Auf die ihrer Eltern oder ihres Mitbewohners. „Ich habe immer versucht, alles alleine zu machen“, sagt sie. „Aber ich musste lernen, Hilfe anzunehmen.“
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