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Von Augsburg in die Heimat Ukraine: Einmal altes Leben und zurück

Augsburg/Ukraine

Altes Leben und wieder zurück: Reise in ein kriegsversehrtes Land

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    Unsere Fotografin reiste mit dem Bus von Augsburg nach Kiew – und erlebte ein völlig verändertes Land.
    Unsere Fotografin reiste mit dem Bus von Augsburg nach Kiew – und erlebte ein völlig verändertes Land. Foto: Anna Kondratenko

    Die Busse fahren jeden Tag von Augsburg ab, Start 9 Uhr am Park-and-ride-Platz in Oberhausen. Wer in ihnen sitzt, zahlt 80 Euro oder etwas mehr als 100 für ein Ticket und für eine weite und lange Reise. In den Urlaub bricht von den Fahrgästen allerdings kaum einer auf. Denn die Menschen fahren in ein kriegsgeplagtes Land, in die Ukraine, sie verbringen 30 Stunden auf dem Weg nach Kiew in den Fahrzeugen des Anbieters Euroclub oder auch mal 45 nach Charkiw. Sie fahren in ihre Heimat. Unter ihnen war vor Kurzem Anna Kondratenko, die als freie Fotografin auch für unsere Zeitung arbeitet. Im März 2022, nach dem Einmarsch russischer Truppen, war sie zusammen mit ihrem Sohn von

    Als sie vergangenes Jahr nach Deutschland kam, sei dies eine Reise ins Ungewisse gewesen, voller Angst und Hoffnungen, erzählt Anna Kondratenko. Eine Reise ins völlig Unbekannte war es nicht: Die 43-Jährige spricht fließend Deutsch, war in ihrer Kindheit mehrfach in Augsburg und Kaufbeuren. Freunde aus der Region hatten ihr nach dem russischen Einmarsch angeboten, ihr zu helfen, sie gefragt, ob sie nach Deutschland kommen wolle. Sie wollte. Aber es sei die schwierigste Entscheidung ihres Lebens gewesen, schildert Kondratenko. "Ich weiß bis heute nicht, ob ich richtig gehandelt habe." 

    Mit dem Bus nach Kiew: Was eine Augsburgerin aus der Ukraine erlebte

    In ihrer Heimat hatte sie Hotelmanagement studiert, in den vergangenen zehn Jahren bereits als Fotografin gearbeitet, sie hatte Freunde, Familie, ein Leben. Ihre Eltern blieben zurück, ihr Ehemann blieb zurück; Männern zwischen 18 und 60 Jahren ist die Ausreise derzeit verboten, auch wenn es Ausnahmen gibt, etwa für Menschen mit Behinderungen oder wenn eine Familie mindestens drei Kinder hat. Anna Kondratenko kam nicht mit viel Gepäck nach Deutschland. Alles, was sie und ihr damals siebenjähriger Sohn mitnahmen, waren ein kleiner Koffer und ein Rucksack. Sie habe die Entscheidung für ihren Sohn getroffen, sagt sie. Sie habe auch für ihn stark sein müssen. "Ich musste ihm helfen. Kinder sollten keinen Krieg erleben."

    Anna Kondratenko aus der Ukraine arbeitet als freie Fotografin auch für unsere Zeitung.
    Anna Kondratenko aus der Ukraine arbeitet als freie Fotografin auch für unsere Zeitung. Foto: Silvio Wyszengrad

    Seither leben die beiden in Augsburg, sie haben hier Fuß gefasst. Gedanken an den Krieg in ihrem Heimatland verlassen sie aber nie. Sie habe Angst gehabt, nach Kiew zurückzukehren, sagt sie. Auch ihr Sohn hatte Angst. Seit Frühling hätten sie die Busreise vorbereitet, zwölf Tage blieben sie. "Mein Mann ist da, meine Eltern. Wir haben das gebraucht." Von Bayern aus fuhr der Bus nach Dresden, dann durch Polen, über die ukrainische Grenze nach Lwiw, von dort aus nach Kiew. Auf der Internetseite des Busanbieters heißt es, der Trip dauere 30 Stunden, aber es könne länger werden, je nachdem, wie viel Zeit die Kontrollen an der Grenze in Anspruch nehmen. Auf dem Hinweg, erzählt Anna Kondratenko, hätten sie sechseinhalb Stunden an der Grenze gestanden, auf dem Rückweg zehn. Der Bus habe fast 50 Plätze gehabt, schildert sie, fast alle seien voll gewesen. Zwar sei das Fahrzeug klimatisiert und eigentlich ganz bequem für die Reisenden. "Aber es ist einfach eine unglaublich lange Strecke."

    Viel Zeit auch, die anderen Fahrgäste kennenzulernen, sich mit ihnen zu unterhalten. "Ich habe im Bus viele Geschichten gehört, warum die Menschen wieder in die Ukraine reisen", sagt die 43-Jährige. Einige wollten ihre Familien wiedersehen, andere müssten wegen eines Behördentermins dorthin, wiederum andere, weil ein Verwandter gestorben sei. Manche hatten Freunde oder Verwandte in München oder Augsburg besucht und kehrten jetzt in die Ukraine zurück.

    Die Menschen in Kiew bemühen sich um Normalität.
    Die Menschen in Kiew bemühen sich um Normalität. Foto: Anna Kondratenko

    Als sie in Kiew ankamen, habe ihr Sohn seinen Vater durch die Fensterscheiben gesehen – und geschrien vor Freude. "Viele im Bus haben geweint, ich auch." Für einen Moment stockt ihr Erzählfluss. "Der Krieg hat so viele Familien zerrissen, es tut mir so weh, dass sie unser Land einnehmen wollen. Sie töten Menschen und begehen grausame Verbrechen gegen das ukrainische Volk. Ich werde das nie vergessen." Das Land, sagt sie, habe sich verändert, seit sie es verlassen habe. Und die Menschen darin auch. Ukrainer seien eigentlich fröhliche, gastfreundliche Menschen. "Sie haben vergessen, wie das Lachen geht", sagt Anna Kondratenko. Auf den Straßen sehe man viel Leid: Menschen, die erblindet seien, denen Gliedmaßen fehlten, die schwere Verbrennungen erlitten hätten. Überall seien Frauen unterwegs, die schwarze Hüte tragen, weil sie einen Familienangehörigen verloren haben. "Man sieht diese Leute überall, in der U-Bahn, in Geschäften, auf dem Markt." 

    Von Augsburg nach Kiew: So hat sich das Land durch den Ukraine-Krieg verändert

    An manchen Ecken deutet nichts auf die Schrecken des Krieges hin.
    An manchen Ecken deutet nichts auf die Schrecken des Krieges hin. Foto: Anna Kondratenko

    Dabei bemühe man sich, ein normales, geregeltes Leben zu führen, trotz des Krieges. Die Menschen gingen zur Arbeit, ins Kino, ins Restaurant, schildert die 43-Jährige. Kinder besuchten Schulen oder den Sportverein, alles funktioniere. Sobald der Luftalarm ertöne, sei es aber mit der Normalität vorbei. Anna Kondratenko hat eine App auf ihrem Smartphone installiert, die anzeigt, wann ein Alarm startet und wann die Warnung aufgehoben wird. Manchmal dauere es nur eine Dreiviertelstunde, manchmal vier Stunden, sagt sie. Man müsse dann einen Bunker aufsuchen oder einen anderen Schutzraum. Man müsse im Voraus planen, wo man hingehe, wenn man unterwegs sei, Kiew sei wahnsinnig groß, in manchen Bezirken gebe es keine U-Bahn, die oft als Schutzraum dient.

    In den zwölf Tagen, die sie blieb, bemühte sie sich, möglichst viele Menschen zu sehen. Und sagt nach ihrer Rückkehr nach Deutschland, sie fühle sich ein wenig in Parallelwelten gefangen. Es gebe das ehemalige Leben und das jetzige. Und sie sei irgendwo mittendrin. "Manchmal denke ich, ich habe mich verloren." Das Leben gehe weiter, "aber es ist so viel kaputt, es gibt so viele Sorgen, so viele Ängste". Man könne nichts langfristig planen. Was wird aus der Familie, den Freunden, der Wohnungen in Kiew? Es sei seltsam gewesen, in ihre alte Bleibe in der Ukraine zurückzukehren, kaum etwas habe sich darin verändert. Aber es sei ihr in Kiew schon so vieles fremd geworden. Nicht alles könne man mit Worten ausdrücken. "Ich bin anders geworden, die Menschen dort sind anders geworden." 

    Dennoch: So schrecklich wie beim ersten Mal sei die Abreise aus Kiew dieses Mal nicht gewesen, kein Aufbruch in eine völlig unklare Zukunft. Sie hätten in Deutschland inzwischen ein Leben, ihr Sohn habe eine tolle Schule, spreche mittlerweile gut Deutsch, sie habe Freunde, eine Wohnung, Arbeit. Und einen Plan, wann die nächste Busreise in die Ukraine folgen soll. "Ich habe zu unserer Familie gesagt: Wir sehen uns nächstes Jahr wieder." 

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