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Augsburg: Roller Derby ist der vielleicht politischste Sport der Welt

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Roller Derby ist der vielleicht politischste Sport der Welt

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    Am Ende ist beim Roller Derby gar nicht so wichtig, was auf der Anzeigetafel steht. Es zählt die Gemeinschaft.
    Am Ende ist beim Roller Derby gar nicht so wichtig, was auf der Anzeigetafel steht. Es zählt die Gemeinschaft. Foto: Jürgen Ziegler

    Wenn sie in ihren Helm mit den Vagina-Stickern schlüpft, in ihre Schoner für Knie, Ellbogen und Hände und in ihre Rollschuhe, dann wird aus Josefine Müller-Schöberl Josefiese. So steht es über ihrer Trikotnummer 17. Neben ihr fahren dann: Abrissdirne, die Blockerin mit der Nummer 12. Fear Promilla, Nummer 107, die – glaubt man Müller-Schöberl – ihrem trinkfesten Namen nicht mehr ganz gerecht wird. Und Ibu Problem, im Berufsleben Apothekerin.

    Es ist alles ein bisschen anders bei den Augsburg Rolling Thunder, beim Roller Derby im Allgemeinen, einem Vollkontaktsport, den mehrheitlich Frauen betreiben. Und doch geht es um mehr. Es geht um Teilhabe, um Gemeinschaft, um gesellschaftliche Leitlinien. Vielleicht ist Roller Derby der politischste Sport der Welt.

    Josefine Müller-Schöberl, auch genannt: Josefiese, spielt Roller Derby bei den Augsburg Rolling Thunder.
    Josefine Müller-Schöberl, auch genannt: Josefiese, spielt Roller Derby bei den Augsburg Rolling Thunder. Foto: Müller-Schöberl

    Und vielleicht sollte man deshalb auch erst einmal mit den sportlichen Grundzügen anfangen.

    Wer Roller Derby erfassen will, braucht Kraft, Ausdauer, Wendigkeit – und sollte sich auch definitorisch etwas verrenken können: Man kann sich diesen Sport in etwa vorstellen wie Rugby ohne Ball auf Rollschuhen. Zwei Teams treten gegeneinander auf einer ovalen Rennbahn an. Sie ist etwa halb so groß wie ein Eishockeyfeld. „Es sind immer fünf Menschen pro Team auf dem Feld“, erklärt Müller-Schöberl. „Vier davon haben die Aufgabe, die fünfte Person aus dem anderen Team daran zu hindern, sie zu überholen.“ Pro Überrundung gibt es einen Punkt. Geblockt werden darf nicht mit Kopf, Schienbein, Fuß und Unterarm.

    Erst Hardcore-Wettlauf, dann wie Wrestling, heute ein Sport des Feminismus

    In der Praxis sieht das dann recht wild aus: Schubsen, checken, laufen, jubeln. Im ständigen Wechsel. Durchschnittlich einmal pro Woche trainiert das gute Dutzend Aktiver der Rolling Thunder, einer Abteilung des TV Augsburg 1847. Bei Müller-Schöberl, 32, Förderschullehrerin in Königsbrunn, begann alles mit einem Film: In „Whip it“ wird Highschool-Rebellin Bliss nicht Schönheitskönigin, so wie sich die Mutter das ausmalt, sondern Roller-Derby-Star. „Ich sah das und dachte: boah, krass. Ich habe zwar ewig die Regeln nicht verstanden, aber wusste: Das will ich machen.“ Seit 2018 spielt sie nun bei den Rolling Thunder. Zusammen mit ihrer Frau.

    Irgendwie war ja auch die ganze Entstehung von Roller Derby filmreif. Alles begann mit einer wahnwitzigen Idee: Im ersten Match, 1935, Chicago, sollten 25 Zweierteams 57.000 Runden fahren. Wer am längsten durchhielt, hatte gewonnen. Später kam ein Punktesystem dazu, Rempeleien wurden Bestandteil des Spiels, die Mannschaften inszenierten Schaukämpfe wie beim Wrestling. Roller Derby, ein Publikumsmagnet in den USA. Als sich konkurrierende Verbände in die Haare kriegten und die Reisekosten der Teams wegen der Ölkrise stiegen, verschwand der Sport in den 70er Jahren wieder in der Versenkung. Erst zur Jahrtausendwende erfanden ihn Feministinnen und Punks neu, als Projektionsfläche für den Kampf um Gleichberechtigung.

    Niemand in der Kabine würde sagen, Sport sei unpolitisch

    Noch heute ist das der Geist im Roller Derby: Am Christopher Street Day spielten die Augsburg Rolling Thunder gegen die zweite Mannschaft von Stuttgart, dem Geburtsort des Roller Derby in Deutschland, gegründet 2006. Als neulich Ljubljana für ein Testspiel zu Gast war, kamen zwei Spielerinnen bei ihren Gegnerinnen unter. So laufe das immer, wenn das Geld mal knapp sei, sagt Müller-Schöberl: „Es herrscht eine hohe Wertschätzungskultur in der Szene. Wir stehen für Akzeptanz und Toleranz.“ In der Kabine würde niemand sagen, Sport sei unpolitisch.

    Das würde auch Anne Müller unterschreiben, die zweite Vorsitzende der Sportkommission Roller Derby, einer Unterabteilung des Deutschen Rollsport- und Inlineverbands. „Wir kommen aus der Frauenrechtsbewegung. Aber der Sport hat sich weiterentwickelt“, sagt sie. Zu Beginn des Jahres hat die Sportkommission ihre Sportordnung geändert: Die Rede ist nun nicht mehr von Frauen- und Männerteams. Stattdessen läuft der Wettkampf zum einen in der sogenannten Kategorie FLINTA*. Das Wort stammt aus der queeren Szene und meint, vereinfacht gesagt: alle Geschlechtsidentitäten mit Ausnahme von biologischen Männern, die sich auch wie Männer fühlen. Zum anderen gibt es „All Gender“-Teams, die wirklich für alle offen sind, de facto teils mehrheitlich aus Männern bestehen.

    Um Transmenschen im Profisport ist eine hitzige Diskussion entbrannt

    Die Diskussion um Transmenschen im Profisport hat längst auch Einkehr im Mainstream gefunden. Nur mit anderer Stoßrichtung. Ist es gerecht, dass Lia Thomas, ehemals ein Mann, bei den US-Collegemeisterschaften abräumte? Sollte die transsexuelle Gewichtheberin Laurel Hubbard bei den Olympischen Spielen wirklich in der Frauenkategorie antreten dürfen? Müller ist solche Debatten leid. Sie sagt: „Uns ist wichtig, dass wir einen Rahmen für jede Gender-Identität schaffen.“

    Hoch her geht es beim Roller Derby der Rolling Thunder in Augsburg. Die Sportart erinnert ein wenig an Rugby – allerdings auf Rollschuhen.
    Hoch her geht es beim Roller Derby der Rolling Thunder in Augsburg. Die Sportart erinnert ein wenig an Rugby – allerdings auf Rollschuhen. Foto: Christian Kolbert, kolbert-press

    Noch steckt das deutsche Roller Derby in den Kinderrollschuhen. Der Verband hat gut 1500 Mitglieder, 37 Teams sind gemeldet. Seit 2019 gab es wegen Corona keinen regulären Spielbetrieb mehr. „Aktuell planen wir eine Bundesliga 2023. Wir wollen den Sport am Leben halten. Ich hab’ Bock“, sagt sie, lacht herzhaft.

    Was auf der Anzeigetafel steht, ist nicht so wichtig

    Die Augsburg Rolling Thunder spielen noch in keiner Liga, zu jung ist der 2015 gegründete Verein. An diesem Wochenende geht es dafür in und gegen Regensburg um die Bayerische Meisterschaft. Kleiner Makel: Die Männer aus dem „All-Gender“-Team dürfen nur zuschauen. Das Regelbuch sieht einen FLINTA*-Wettkampf vor.

    Und doch soll beim Roller Derby etwas wahr werden, was einem im Sport manchmal vielleicht zu schnell über die Lippen purzelt: Das Wir gewinnt. „Ich ziehe unheimlich viel Kraft aus Roller Derby. Es ist ein Sport, der nicht funktioniert, ohne dass alle da ihr Herzblut reinstecken. In dieser Community ist man einfach willkommen, egal wo“, sagt Josefine Müller-Schöberl, aka Josefiese.

    Was auf der Anzeigetafel steht, ist am Ende nicht so wichtig. Was zählt, ist die Gemeinschaft. Als das Augsburger Team im Testspiel mit 84:143 gegen Ljubljana unterging, schossen beide Mannschaften noch ein gemeinsames Foto. Kein einziger Mundwinkel zeigt darauf nach unten.

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