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Chancen: „In Russland sind Behinderte Bettler“

Chancen

„In Russland sind Behinderte Bettler“

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    Wie begrüßt man jemanden, der keine Arme hat? Eine Frage, die sich Jonas Wengert so noch nicht gestellt hat, doch bald muss er eine Antwort darauf finden. Denn der 20-Jährige darf als Nachwuchsjournalist für die Paralympics-Zeitung von den Paralympics in Sotschi berichten.

    Wengert sitzt vor einem Glas Wasser im Eingangsbereich der Anton-Bezler-Turnhalle in Göggingen und plaudert über die Olympischen Spiele und ganz banale Fragen, die sich im Umgang mit behinderten Sportlern ergeben.

    In wenigen Minuten beginnt das Training der Rollstuhlbasketballmannschaft des SV Reha Augsburg. Von Geburt an lebt Wengert mit einer sogenannten Tetraspastik, die seine Beine weitgehend lähmt – für längere Strecken braucht Wengert einen Rollstuhl. Seit gut einem Jahr spielt er in der zweiten Mannschaft des SV Reha. Ein Glücksgriff, denn die Trainerin Birgit Meitner, selbst Paralympics-Teilnehmerin, hat ihn auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, bei der Paralympics-Zeitung mitzuwirken. Wengert studiert eigentlich Wirtschaftsingenieurwesen und Projektmanagement, doch das ist nur der Plan B. Noch lieber will er Journalist werden. Die Paralympics begriff er als große Chance, seinem Traum ein Stück näherzukommen. Also bewarb er sich.

    Wenige Monate später saß er schon im ersten Vorbereitungsseminar in Berlin, wo die jungen Reporter eine Einführung in die journalistische Arbeitsweise und die russische Kultur erhielten. Bei einem weiteren Kurs durften die Jungjournalisten in die russische Hauptstadt Moskau reisen. Dabei fiel Wengert auf, dass in der ganzen Stadt kaum Menschen mit Behinderung zu sehen waren. „In Russland sind Behinderte nur Bettler“, sagt Wengert. Das habe der sechsfache russische Paralympics-Sieger Sergej Shilov bei dem Treffen in Moskau berichtet. Tatsächlich habe die Gruppe während ihres viertägigen Aufenthaltes in der Stadt an der Moskwa lediglich zwei Menschen mit Behinderung gesehen – beide bettelten am Straßenrand. Ihre erbärmliche Lage habe ihn zutiefst erschüttert. „Mir wurde klar, welches Glück ich habe, dass ich in Deutschland lebe. Wir klagen hier auf hohem Niveau“, stellte er fest.

    Die Leute in Moskau haben regelrecht gegafft

    Als Rollstuhlfahrer muss er ein seltener Anblick gewesen sein, die Leute hätten ihn regelrecht angegafft, berichtet Wengert. Dennoch waren sie äußerst hilfsbereit, erinnert er sich. Diese Hilfe habe er häufig in Anspruch nehmen müssen. Denn „die Stadt ist absolut nicht barrierefrei. Ich habe in den U-Bahn-Stationen keinen einzigen Aufzug gesehen.“ In Sotschi sei dies sicher anders. Wengert ist da zuversichtlich. „Das sind die teuersten Spiele aller Zeiten. Ich hoffe, dass man da auf die Barrierefreiheit geachtet hat.“

    Die Vorfreude auf die Spiele ist im Moment größer als jeder Zweifel. Am meisten fiebere er der Eröffnungsfeier entgegen. „Das wird ein Highlight. So etwas vor Ort miterleben zu können, ist etwas ganz anderes“, schwärmt Wengert. Glücklich ist er auch darüber, „das Privileg zu haben“, den Sportlern ganz nah zu kommen, selbst in der Mixed Zone zu stehen und Interviews zu führen.

    Natürlich wollen die jungen Schreiber auch kritische Themen anpacken. „Man muss nicht auf Biegen und Brechen das Haar in der Suppe suchen“, sagt Wengert. Doch wo Kritik gerechtfertigt ist, soll sie nicht verschwiegen werden. Allerdings wurden die Nachwuchsjournalisten in der Vorbereitung auf die Spiele darauf aufmerksam gemacht, dass ihre Kommunikation möglicherweise überwacht werde. Sie sollten sich daher lieber etwas zurückhaltender äußern, wurde ihnen mit auf den Weg gegeben. Denn im Zweifel kann die Akkreditierung für die Olympischen Spiele entzogen werden. Beim Thema Sicherheit ist Wengert relativ entspannt. „Natürlich sind wir alle froh, wenn wir wieder heil zu Hause sind. Angst habe ich aber nicht. Ich kann ja sowieso nichts ändern.“ Die Sicherheitsvorkehrungen seien so gewaltig, „ich kann mir nicht vorstellen, dass bei den Paralympics etwas passiert“.

    Nach der intensiven Vorbereitung beginnt für Jonas Wengert am 6. März der Ernstfall. Dann geht es endlich los, und er wird nicht nur herausfinden, wie man Menschen ohne Arme begrüßt.

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