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Region Augsburg: Medizin im Minutentakt: Kinderärzte in Stadt und Land sind am Limit

Region Augsburg

Medizin im Minutentakt: Kinderärzte in Stadt und Land sind am Limit

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    Viele Kinderärzte sind überlastet, sagt Christian Voigt. In seiner Praxis in Stadtbergen behandeln er und seine Kollegen rund 80 Patientinnen und Patienten am Tag.
    Viele Kinderärzte sind überlastet, sagt Christian Voigt. In seiner Praxis in Stadtbergen behandeln er und seine Kollegen rund 80 Patientinnen und Patienten am Tag. Foto: Marcus Merk

    Die "ordentliche Erkältung" muss in acht Minuten abgeklärt sein. Schnell der Mutter ein paar Fragen gestellt, die Zweijährige abgehört, in den Hals und die Ohren geschaut. Nebenan wartet schon der nächste Patient, ein kleiner Junge, mit Bauchschmerzen. Anschauen - Diagnose - Ratschlag. Anschauen - Diagnose - Rezept. Anschauen - Diagnose - Krankschreibung für die Schule. Zack, zack, zack. Nur so sammelt Kinderarzt Christian Voigt aus Stadtbergen die Minuten für die Fälle, die mehr Zeit brauchen. Ein Kind mit psychischen Problemen, einer Essstörung, ADHS. Voigt wirft einen Blick auf den Computer, den nächsten Termin, atmet tief durch und sagt: "Es ist schon manchmal eine Herausforderung, sich nicht hetzen zu lassen."

    Christian Voigt, 53, arbeitet seit über 20 Jahren als Kinderarzt.
    Christian Voigt, 53, arbeitet seit über 20 Jahren als Kinderarzt. Foto: Marcus Merk

    Voigt ist seit über 20 Jahren Kinderarzt - aus Leidenschaft, wie er sagt. Doch fast jedes Jahr, so kommt es ihm vor, wird es schlimmer. Immer mehr Aufgaben, mehr Patientinnen und Patienten, weniger Zeit. In den beiden Wartezimmern seiner Praxis in Stadtbergen warten schon die nächsten Babys und Kinder. Sie niesen, husten und jammern. Voigt und seine beiden Kollegen wechseln zwischen den Behandlungsräumen, zwischen grippalen Infekten, Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen. Am Ende des Tages werden sie rund 80 Kinder und Jugendliche gesehen haben. "Wir sind längst an unserer Kapazitätsgrenze", sagt Voigt. Damit meint er nicht nur seine Praxis. Der 53-Jährige, der Sprecher für Augsburg und Nordschwaben im Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte ist, berichtet von Ärztinnen und Ärzten "am Limit" - ob in der Stadt oder auf dem Land. Und das nicht erst seit der Corona-Pandemie.

    Kinderärzte: Die Region Augsburg gilt offiziell als "überversorgt"

    Auf dem Papier sieht die Lage anders aus. Nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) gibt es keinen Mangel, im Gegenteil. Die Region Augsburg gilt laut Bedarfsplanung, die zentral für Deutschland vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) in Berlin festgelegt wird, als "überversorgt", was die Zahl der Kinderärztinnen und -ärzte betrifft. In der Stadt Augsburg kommen 43 Mediziner auf 45.637 Einwohner unter 18 Jahren - das entspricht einem Versorgungsgrad von 115,71 Prozent. Im Landkreis liegt der Wert bei 111,03. Und weil der besser ist als im Bedarfsplan errechnet, sind keine neuen Praxen erlaubt.

    Wenn Voigt hört, dass es angeblich zu viele Kinderärzte gibt, kann er nur schmunzeln. Die Bedarfsplanung nennt er veraltet, trotz der Anpassung vor zweieinhalb Jahren. Denn die Aufgaben seien drastisch gestiegen. Nicht nur sei die Zahl der Vorsorgeuntersuchungen und der Impfungen mehr geworden. Kinder würden übergewichtiger, der Medienkonsum nehme zu, es gebe mehr Krankheiten wie ADHS, Allergien oder Asthma und mehr Migranten mit Sprachbarrieren. Und nicht zuletzt würden wieder deutlich mehr Kinder geboren.

    Die Entwicklung der vergangenen Jahre zeigt: Weniger Ärztinnen und Ärzte versorgen mehr Kinder und Jugendliche. Noch vor fünf Jahren lag der Versorgungsgrad in Augsburg bei 144. Damals waren 57 Mediziner für 43.000 Patientinnen und Patienten zuständig. Dieser Trend wird sich laut Voigt fortsetzen. Er warnt: "Wir steuern auf eine Versorgungslücke zu." Auch weil der Nachwuchs, der zu über 70 Prozent aus Frauen bestehe, keine eigene Praxis mit unternehmerischem Risiko und Überstunden wolle. Der Großteil der Ärzte im Raum Augsburg sei zwischen 50 und 60 Jahre alt, das zeigen auch die Daten der KVB. Voigt sagt: "Wenn die aufhören, platzen die Praxen aus allen Nähten."

    Eltern brauchen vor allem eines: Geduld

    Trubel ist auch Thomas Gilb gewohnt. In seiner Gemeinschaftspraxis in der Innenstadt wird eine Mutter mit hustendem Kleinkind auf dem Arm gerade höflich runter in den Hof geschickt. "Unsere Wartezimmer sind voll. Kommen Sie doch bitte in zehn Minuten wieder", sagt der Mann am Empfang. Er und seine Kolleginnen sind eine wichtige Stütze für das Ärzteteam. Vielen Eltern können sie am Telefon weiterhelfen - sodass die gar nicht erst in die Praxis kommen müssen. Es klingelt. Ununterbrochen. "Seit wann hat er Fieber? Wie hoch?", fragt die Medizinische Fachangestellte am Tresen. "Gut, ich sehe mal nach, wo ich Sie noch zwischenschieben kann."

    Unter zehn bis zwölf Stunden kommen er und seine Kollegen nicht aus der Praxis - oft falle zu Hause dann noch Büroarbeit an, sagt Gilb - zuzüglich Bereitschaften für Notfälle an Wochenenden und Feiertagen. "Natürlich merkt man das irgendwann gesundheitlich", sagt der Kinderarzt. Deshalb arbeite er mit Ende 50 nicht mehr Vollzeit. Das sei auch so eine Sache. Die 43 bewilligten Sitze für Augsburg würden nicht alle zu hundert Prozent ausgefüllt. "Das verzerrt das Bild, wie gut eine Region versorgt ist, auch ein Stück weit."

    Für Eltern bedeutet das: Sie brauchen Geduld - in Warteschleifen und Wartezimmern. Sie müssen langfristig planen, wenn sie ihre Kinder impfen und zu den Vorsorgeuntersuchungen bringen wollen. Sie müssen teils auf Hausärzte und Notdienste ausweichen. Und sie werden abgelehnt, wenn sie mit ihren Kindern den Arzt wechseln wollen. Nur die Neuaufnahme von Neugeborenen ist unproblematisch, wie eine Abfrage bei mehreren Praxen im Raum Augsburg ergeben hat. Sonst heißt es: Patientenstopp. "Natürlich gibt es auch Einzelfallentscheidungen", sagt Gilb. "Aber selten."

    Im bayerischen Gesundheitsministerium hat man von den Klagen der Ärzte und Eltern gehört. Eine Sprecherin bezieht sich auf die Verantwortlichkeit des G-BA und die Daten der KVB. Schwaben gelte als regel- bis überversorgt, neue Praxisniederlassungen seien deshalb nicht möglich. Die nächste Überprüfung steht im Sommer 2024 an.

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