Startseite
Icon Pfeil nach unten
Augsburg
Icon Pfeil nach unten

Prozess in Augsburg: Schüsse im Netto am Kö: Ankläger fordert sechseinhalb Jahre Jugendhaft

Prozess in Augsburg

Schüsse im Netto am Kö: Ankläger fordert sechseinhalb Jahre Jugendhaft

    • |
    Die Netto-Filiale am Augsburger Königsplatz nach dem dramatischen Vorfall. Am Dienstag fällt das Urteil im Prozess.
    Die Netto-Filiale am Augsburger Königsplatz nach dem dramatischen Vorfall. Am Dienstag fällt das Urteil im Prozess. Foto: Peter Fastl

    Das "letzte Wort" hat der Angeklagte. Nach zwölf Verhandlungstagen im Prozess um die dramatischen Schüsse im Netto-Markt am Königsplatz am 19. Juni 2020, bei denen er lebensgefährlich verletzt wurde, ergreift Nico M. (20) die für ihn letzte Chance, ein paar abschließende Sätze an das Gericht zu richten. In grauem Sweatshirt und blauer Anstaltshose liest er ab, was er handschriftlich auf zweieinhalb Seiten festgehalten hat. "Ich bin im Normalzustand kein schlechter Mensch. Ich bin kein Outlawer", also kein Gesetzloser, wie ihm zuvor Staatsanwalt Benjamin Junghans vorgehalten hat. Am Dienstag soll das Urteil im

    Er wolle kein Mitleid erregen, sagt Nico M. Aber: "Ich bin falsch abgebogen auf meinem Lebensweg. Und das hat mich fast mein Leben gekostet", zieht er ein Fazit seines von Drogen- und Alkoholmissbrauch sowie von Straftaten gezeichneten bisherigen desolaten jungen Lebens. Er beteuert, er habe in seiner damaligen Situation im Netto-Markt keinen Polizisten verletzen wollen. Und schlussendlich bittet er die Jugendkammer unter Vorsitz von Lenart Hoesch eindringlich: "Bitte geben Sie mir eine Chance."

    Ob Nico M. nun im Türstock eines völlig verrauchten Raumes mit einem Messer in der Hand tatsächlich einen Polizisten angreifen und töten wollte, wie es die Anklage sieht. Oder ob Nico M. die Waffe mit einer Klingenlänge von acht Zentimetern nur in der Hand hielt und auf die Polizisten zuging, um sich möglicherweise erschießen zu lassen, weil er mit seinem Leben abschließen wollte, wie es seine Verteidiger Werner Ruisinger und Florian Schraml sehen, bleibt in den Plädoyers heftig umstritten.

    Schüsse im Netto am Kö: Alles begann mit dem Diebstahl eines Tetrapaks Wein

    Am Tattag war der damals 19-Jährige beim Diebstahl eines Tetrapaks Wein erwischt worden. Er hatte dann im Büro des Ladendetektivs diesen und einen Polizisten mit einem Nothammer und einem Messer bedroht und Zeugenaussagen zufolge den Beamten bedroht: "Ich stech' dich ab, du Arschloch." Nachdem er eingesperrt worden war, legte er im Büro Feuer. Die Polizei rammte die Türe auf, setzte Pfefferspray und Feuerlöscher an. Als er laut Anklage mit erhobenem Messer auf zwei Beamte zuging, gaben diese sechs Schüsse auf den Angeklagten ab, die ihn im Oberkörper und am Arm trafen.

    Staatsanwalt Junghans wertet nach der Beweisaufnahme die Situation so: "Es war ein direkter Angriff des Angeklagten mit einer Stichbewegung von oben nach unten." Nico M. habe die Absicht gehabt, "mit Vorsatz mindestens einen Beamten zu töten".

    Prozess in Augsburg: Warum waren die Bodycams ausgeschaltet?

    Verteidiger Rusinger kritisiert, dass die Einsatzbeamten vor den Schüssen ihre Bodycams ausschalteten. Die Aufzeichnung des Geschehens hätte Aufschluss geben können, was sich wirklich ereignet hat, welche Bewegung der Angeklagte mit dem Messer gemacht habe. "Dies wäre sehr hilfreich gewesen, um ein faires Urteil zu fällen, auch wenn die Aufzeichnung mit der Bodycam nicht verpflichtend ist", sagte Ruisinger. Für seinen Anwaltskollegen Florian Schraml haben die Zeugenaussagen vier Varianten der entscheidenden Phase ergeben. "Es ist deshalb völlig unklar, wie er das Messer verwendet hat." Schraml glaubt, was sein Mandant gegenüber einem Gutachter geäußert hat: "Er wollte sterben, sich erschießen lassen."

    Ankläger Junghans bleibt beim Vorwurf des versuchten Totschlags als schwersten Straftatbestand. Darüber hinaus listet er noch 17 weitere einzelne Fälle auf, vom Diebstahl mit Waffen, der Beleidigung, der Körperverletzung, vom Widerstand bis zur schweren Brandstiftung, für die er Nico M. bestraft sehen will. Dieser sei "kein einfacher Ladendieb, sondern habe sich mental zum Outlawer, zum Gesetzlosen entwickelt, der sich an keinerlei Regeln hielt, der strafrechtlich Karriere in allen Deliktsbereichen gemacht habe. Insgesamt fordert Junghans für den Heranwachsenden nach dem Jugendstrafrecht eine Einheitsjugendstrafe von sechseinhalb Jahren plus Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Therapie.

    Der Angeklagte musste acht Mal operiert werden

    Die beiden Verteidiger Ruisinger und Schraml sehen "noch einige Fragen ungeklärt". Nico M. habe vor allem in den letzten drei Monaten vor den Schüssen durch Tabletten, Drogen und Alkohol die Kontrolle über sein Leben völlig verloren. "Er ist außer Rand und Band geraten", beschreibt Werner Ruisinger die damalige Lebenssituation seines Mandanten. Er weist darauf hin, dass Nico M. durch die Schüsse beinahe sein Leben verloren habe, dass er acht Mal operiert worden sei. "Wir alle müssen es schaffen, Nico wieder auf die Spur zu bringen, ihm die Rückkehr in ein normales Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen", appelliert Ruisinger. Den Kernvorwurf des Dramas sehen die Verteidiger nicht als versuchten Totschlag, sondern als "tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte". Sie halten bei teilweiser Anwendung von verminderter Schuldfähigkeit eine Jugendstrafe von dreieinhalb Jahren plus Unterbringung für gerechtfertigt.

    Die Jugendkammer wird das Urteil am Dienstag, 13.30 Uhr, verkünden.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden