Es ist 10.48 Uhr, der Vorsitzende Richter der Jugendkammer Lenart Hoesch hat gerade die Verkündung des Urteils - sieben Jahre und zehn Monate Jugendhaft wegen Totschlags - beendet, als Fabienne K., 20, einen Schwächeanfall erleidet, schwankt, sich am Tisch abstützt, Medikamente bekommt. Die junge Frau mit den lila gefärbten Haaren ist nach dem mehrwöchigen Prozess vor dem Landgericht mit ihren Kräften am Ende. Die Jugendkammer hat sie soeben - anders als die Staatsanwaltschaft beantragt hatte - nicht wegen Mordes, sondern lediglich wegen Totschlags schuldig gesprochen. Von den Angehörigen des Opfers und der Täterin wird der Schuldspruch völlig unterschiedlich wahrgenommen.
Urteil im Prozess um tödlichen Messerstich in Pfersee gefallen
Warum genau Fabienne K. am Abend des 25. November 2020 an einer Bushaltestelle in Pfersee den ihr zuvor völlig unbekannten 28-jährigen Stefan D. mit einem einzigen Stich ins Herz tötete, bleibt nach wie vor unklar. Nicht nachweisen konnte das Gericht der Angeklagten, dass sie heimtückisch mit direktem Tötungsvorsatz gehandelt hat.
Weil der Zuschauerandrang bereits während der Plädoyers am Montag im Sitzungssaal der Jugendkammer im zweiten Stock des Strafjustizzentrums groß war, hat das Gericht die Verkündung des Urteils in den größten Saal des Hauses im Erdgeschoß verlegt. Viele Zuhörer, Angehörige und Freunde von Täterin und Opfer sowie zahlreiche Medienleute wollen das Urteil verfolgen. Die Angeklagte Fabienne K. wird erst in den Saal geführt, nachdem Richter Hoesch das Fotografieren und Filmen untersagt hat. Der Saal ist voll besetzt, kein Stuhl bleibt frei.
Die Angeklagte Fabienne K. hat in der Haft 25 Kilo zugelegt
Fabienne K., die während ihrer Haft seit November in der Jugendabteilung des Aichacher Frauengefängnisses - wohl auch aufgrund von Medikamenteneinnahmen - rund 25 Kilo an Körpergewicht zugelegt hat, trägt die linke Hand in einem Verband. Vor zwei Tagen ist sie im Gefängnis möglicherweise bei einem epileptischen Anfall gestürzt und hat sich verletzt.
Knapp 15 Minuten lang erläutert Richter Hoesch das Urteil der Jugendkammer und bedauert, dass man das tödliche Geschehen aufgrund unklarer Zeugenaussagen nicht endgültig aufarbeiten habe können.
So viel zur Vorgeschichte steht fest: Fabienne, ihr Freund und ein Bekannter hatten sich an jenem Tag in den Pferseer Wertachauen aufgehalten, Alkohol und wohl auch Drogen konsumiert. Als die Gruppe heimwärts zieht, kommt sie an der Bushaltestelle in der Chemnitzer Straße vorbei. Dort steht das spätere Opfer Stefan D., genannt Dorschi. Er soll dem Freund Fabiennes beim Vorbeigehen an den Po gegriffen haben, was nicht bewiesen, aber auch nicht auszuschließen ist. Als Fabienne von dem angeblich sexuell motivierten Griff erfährt, entschließt sich die Gruppe zurückzugehen und Stefan D., der ebenfalls alkoholisiert ist, zur Rede zu stellen. Es kommt zu einem Wortwechsel, dann zu einer Rangelei zwischen Dorschi und dem Freund der Angeklagten, die für Außenstehende eher harmlos erscheint.
Fabienne geht auf die andere Straßenseite, holt aus ihrer Handtasche ein Taschenmesser, das sie stets bei sich trägt, klappt es auf und steckt es in ihre Jackentasche. Dann geht sie zum Ort der Rangelei zurück und ruft: "Lass meinen Freund in Ruhe." Sie geht auf die beiden jungen Männer zu. Als sich Dorschi und Fabienne gegenüberstehen, zieht diese das Messer mit einer Klingenlänge von 6,6 Zentimetern und rammt es mit voller Wucht Dorschi in die Brust. Die Klinge trifft mitten ins Herz und verletzt die Aorta - das Todesurteil für den 28-jährigen Stefan, der an Ort und Stelle innerhalb von Minuten verblutet.
Was bei der Tat alles eine Rolle gespielt haben könnte
Das Gericht geht davon aus, dass Fabienne nicht mit Heimtücke - einem Mordmerkmal - gehandelt habe. Verminderte Steuerungsfähigkeit sei nicht ausgeschlossen, sagt Richter Lenart Hoesch. Eine posttraumatische Störung nach zwei zurückliegenden Vergewaltigungen, die Angst vor Männern sowie Anzeichen für eine Persönlichkeitsstörung könnten bei der Tat eine Rolle gespielt haben. Fabienne, so das Gericht, habe aber mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt, den Tod des Opfers in Kauf genommen, weil sie ihm das Messer mitten in die Brust stach. "Dieser Stich ist besonders tragisch ausgefallen, weil das Opfer keine Überlebenschance hatte", so Richter Hoesch. Die Angeklagte habe sich "äußerst erschüttert" über ihr Tun und Reue gezeigt. In der Jugendhaft könne Fabienne ihre Ausbildung abschließen und eine Traumatherapie machen.
Nach dem Urteil zeigten sich die Verteidiger Werner Ruisinger und Florian Schraml zufrieden mit der rechtlichen Beurteilung des Falles als Totschlag. Zur Strafhöhe sagte Ruisinger: "Es ist kein mildes, aber ein gerechtes Urteil." Es sei klar geworden, dass Fabienne in Panik geraten und komplett überreagiert habe. Die Verteidiger werden den Schuldspruch wohl akzeptieren. Enttäuscht zeigte sich dagegen Anwalt Nicolas A. Frühsorger, der Mutter und Bruder des Opfers zuletzt als Nebenkläger vertrat. "Das Urteil ist nicht das, was wir uns erwartet haben. Wir haben uns eine Verurteilung wegen Mordes und eine Strafhöhe von etwa neun Jahren vorgestellt." Ob das Rechtsmittel der Revision eingelegt wird, müsse erst noch überlegt werden. Wie sich die Anklagebehörde verhält, die eine Jugendstrafe von neun Jahren und zwei Monaten wegen Mordes gefordert hatte, ist ebenfalls noch unklar.
Bruder des Opfers: "Es hätte jeden erwischen können"
Unter Zuschauern sowie Angehörigen und Freunden von Täterin und Opfer hat das Urteil unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Schon während der Begründung durch Richter Lenart Hoesch kommt es zu teils verärgerten Zwischenrufen. Anita D., die Mutter von Dorschi, zeigt sich über das Urteil erschüttert: "Es ist wie ein Schlag ins Gesicht. Mein Sohn kommt nicht mehr zurück. Das Einzige, was uns geblieben war, wäre eine gerechte Strafe zu finden. Dies ist uns verwehrt worden." Der Bruder des Opfers, der den Prozess ebenfalls als Nebenkläger verfolgt hat, ist emotional aufgewühlt: "Kein Urteil der Welt kann wieder gutmachen, was passiert ist." Warum das Gericht das Geschehen juristisch nicht als Mord sondern als Totschlag qualifiziert hat, sei für ihn unverständlich. "Es hätte jeden auf der Straße erwischen können. Aber ausgerechnet mein Bruder wurde getötet."
Fabiennes Vater, der ebenfalls im Saal sitzt, ist froh, dass das Urteil noch relativ milde ausgefallen ist. "Fabienne ist ein ganz lieber Mensch, hat aber einfach starke psychische Probleme", beschreibt er seine Tochter. Deshalb sei er erleichtert, dass sie nun in der Haft psychische Hilfe bekommt und die Ereignisse der Vergangenheit aufarbeiten kann. Als "gerecht" empfindet die Großmutter der Verurteilten den Schuldspruch. Sie habe den Prozess emotional erschüttert verfolgt. Nach der Urteilsverkündung treffen auf dem Flur des Gerichts Oma und Vater Fabiennes sowie Mutter und Bruder von Dorschi aufeinander. Fabiennes Oma sagt, dass ihr alles leidtue. Es kommt zu einem Gespräch und schließlich zu einer versöhnlichen Geste, als man die Telefonnummern austauscht.
Die damalige Freundin, 27, des Opfers, die der Angeklagten schon während ihrer Zeugenaussage im Prozess Vorwürfe gemacht hatte, kritisiert das Urteil: "Diese Frau hat das Leben meines Freundes auf dem Gewissen. Das Urteil ist eine Schande für das gesamte deutsche Strafrechtssystem."