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MS-Patientin: Margarete Heinrich: "Wollte mich von meiner Krankheit nie beherrschen lassen"

MS-Patientin

Margarete Heinrich: "Wollte mich von meiner Krankheit nie beherrschen lassen"

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    Margarete Heinrich leidet seit über 15 Jahren an Multipler Sklerose. Manche Tage, sagt sie, sind ein Kampf. Doch ihr Leben wollte und will sie durch die Krankheit nicht bestimmen lassen.
    Margarete Heinrich leidet seit über 15 Jahren an Multipler Sklerose. Manche Tage, sagt sie, sind ein Kampf. Doch ihr Leben wollte und will sie durch die Krankheit nicht bestimmen lassen. Foto: Peter Fastl

    Der Text auf der Einladungskarte zu ihrem 40. Geburtstag ist voller Zuversicht: "Jetzt kommt mein bestes Jahrzehnt!" Doch das Schicksal hatte für Margarete Heinrich einen anderen Weg gewählt. Im Sommer 2006, gut ein Jahr nach dem Runden, fällt ihr auf, dass ihre Beine immer öfter pelzig werden. Ein Symptom, das die passionierte Bergwanderin nicht kennt, sie geht zum Arzt. Der diagnostiziert ihr einen Burn-out, der sich durchaus einstellen könne bei einer Frau mit ihrem Pensum. Doch Heinrich ahnt, dass es mehr ist als Erschöpfung: "In meinem Körper tobte ein Dritter Weltkrieg." Eine Vermutung, die sich bald als wahr herausstellen sollte.

    Die Bänkerin arbeitet zu diesem Zeitpunkt Vollzeit, steckt in einer berufsbegleitenden Ausbildung zum Fachwirt für Finanzberatung, ist alleinerziehende Mutter dreier Kinder, Stadträtin und Mitglied der freiwilligen Feuerwehr. Für Margarete Mäggi Heinrich ist es ein Alltag, der sie fordert, aber nach eigenem Empfinden nicht überfordert. Auch deshalb glaubt sie nicht an einen Burn-out, doch weil die Symptome nicht abklingen, fährt sie in die Marianne-Strauß-Klinik nach Starnberg. Dort stellen ihr Ärzte die Diagnose, die Heinrich eine "Nachricht ohne Widerruf" nennt: Sie leidet unter Multipler Sklerose, einer Autoimmunerkrankung, die das zentrale Nervensystem, das Gehirn und das Rückenmark betrifft und die über 250.000 Menschen in Deutschland haben. Heilbar ist MS nicht, manche Menschen zwingt sie binnen kurzer Zeit in den Rollstuhl.

    Augsburger Stadträtin: "Wollte mich von Krankheit nie beherrschen lassen"

    15 Jahre später, ein Vormittag im Mai. Margarete Heinrich sitzt in einem Augsburger Café bei einer Tasse Cappuccino, zum blauen Kleid trägt sie weiße Turnschuhe. Den Weg von ihrem Büro auf der Straße gegenüber ist sie herübergelaufen, ein paar Stunden bleiben bis zur Stadtratssitzung, später wird sie den Tag noch mit zwei Stadtratskolleginnen im Damenhof beschließen. Was die 57-Jährige in 24 Stunden packt, dafür brauchen andere eine Woche. Gestresst wirkt sie dennoch nie, im Gegenteil. Dass das manchmal auch ein Kampf ist, deutet Heinrich allenfalls an: "Ich wollte mich von meiner Krankheit nie beherrschen lassen."

    Nur wenige Menschen - Familie, Freunde, einige Kolleginnen und Kollegen - hat sie seit jenem Sommer 2006 eingeweiht. Der Entschluss zu schweigen, reifte schon in der Klinik: "Ich lag in meinem Bett und habe überlegt, ob ich jetzt alles aufgebe, was ich mache." Die Ärzte hatten ihr dazu geraten. Stress kann neue Schübe auslösen und den Zustand von MS-Patienten verschlechtern. "Ich fühlte mich, als hätte ich auf der Autobahn eine Vollbremsung einlegen müssen, weil mir jemand was vor die Reifen geworfen hatte." Margarete Heinrich bremste nicht. "Ich habe damals beschlossen, alles so weiterzumachen - nur bewusster." Sie stellte ihre Ernährung um und trinkt bis heute so gut wie keinen Alkohol mehr.

    Über ihre Krankheit MS spricht Margarete Heinrich erstmals öffentlich

    Über die Gedanken, die sie umtrieben, über die Herausforderungen eines Lebens mit MS, spricht Heinrich nun zum ersten Mal öffentlich. "Ich glaube, ich hätte meinen Weg sonst nicht so gehen können, wie ich ihn gegangen bin", ist sie überzeugt. Vielleicht hätte man im Beruf, in der Politik mehr Rücksicht auf sie nehmen wollen. Vielleicht hätte man ihr manche Position, manche Herausforderung auch gar nicht erst zugetraut. Heinrich will das nicht beurteilen. Sie sagt nur: "Ich wollte die Verantwortung für mich selbst übernehmen und als Mensch wahrgenommen werden, der fest im Leben steht, anstatt als einer, mit dem man Mitleid haben muss."

    Vieles, wovon sie vor der Diagnose träumte, hat Mäggi Heinrich sich seitdem erfüllt - so, als gäbe es den "Weltkrieg" in ihrem Körper nicht. Sie hat sich ein Häuschen in Haunstetten gekauft, ihre Mutter zog daneben ein. Heinrichs drei Töchter können bzw. konnten studieren, sie selbst ging beruflich und politisch unbeirrt ihren Weg. Viele Jahre vertraute man in der SPD auf die Erfahrung von Margarete Heinrich, bis sie und ihre Familie nach der Kommunalwahl 2020 geschlossen aus der Partei austraten - aus Frust über die Koalition, die die Augsburger Sozialdemokraten mit der Linken eingegangen waren. Politisch aktiv blieb Heinrich trotzdem, inzwischen ist sie Einzelkämpferin im Stadtrat. Eine Rolle, die man ihr abnimmt. Margarete Heinrich ist eine Teamplayerin, doch sie findet ihren Weg auch alleine.

    2014 managte Margarete Heinrich den OB-Wahlkampf für Stefan Kiefer.
    2014 managte Margarete Heinrich den OB-Wahlkampf für Stefan Kiefer. Foto: Annette Zoepf

    Mit der Zeit spürt Heinrich, dass ihre Kraft nachlässt

    Manchmal sucht sie diese Zeit mit sich bewusst, zu Beginn der Krankheit genießt sie sie noch bei Radtouren oder in den Bergen. "Ich bin manchmal ganz früh am Morgen los und auf irgendeinen Berg gestiegen." Doch mit der Zeit spürt Heinrich, dass ihre Kraft nachlässt. "Ich bin häufiger gestürzt, habe mir blutige Knie geholt. Dann habe ich mich ausgeruht und bin weitergegangen." Durchbeißen. Nicht aufgeben. An sich glauben. Mäggi Heinrich hat dieses Mantra geholfen, weiterzumachen. Denn es gab und gibt Rückschläge, neue Schübe, verletzende Erlebnisse. "An manchen Tagen, wenn es mir schlechter geht, schwanke ich beim Gehen. Manche Menschen glauben dann, ich hätte schon am Morgen getrunken." Auf solch abfällige Kommentare hinter ihrem Rücken reagiert die Politikerin mit der offenen Art, für die sie auch im Stadtrat bekannt ist: Sie kontert sachlich, aber bestimmt.

    Anderen Menschen mit MS möchte Heinrich Mut machen, ihren eigenen Weg zu finden. Der, sagt sie bewusst, könne auch ein anderer sein als ihrer: Wenn jemand beschließe, weniger zu arbeiten, sei das ebenso in Ordnung wie ihre Entscheidung, weiterzumachen wie vorher. Nur eines sagt Heinrich deutlich: "Man muss sich selbst auch einmal eingestehen, wenn es nicht mehr geht. Dann bleibt man lieber einen oder zwei Tage zu Hause, um dann mit voller Kraft wieder zu arbeiten." Denn es gibt sie, diese Tage, an denen der Körper einem Grenzen setzt.

    Das Thema Mobilität treibt die Augsburger SPD-Stadträtin um

    Das Thema Mobilität hat für Margarete Heinrich eine besondere Bedeutung bekommen, auch bei Diskussionen im Stadtrat. Fahrrad kann sie nicht mehr fahren, an manchen Tagen sind die 700 Meter bis zur Bushaltestelle kaum zu schaffen, weshalb sie oft das Auto nimmt. Fährt sie zu beruflichen oder politischen Terminen, überlegt sie vorher, wo sie ihr

    Das ist Multiple Sklerose

    Multiple Sklerose ist eine chronisch fortschreitende Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS) mit unterschiedlichen Verlaufsformen. Dabei zerstören körpereigene Immunzellen die Schutzschicht der Nervenfasern (Myelinscheide).

    Die Folgen reichen von körperlichen Behinderungen über Fatigue bis hin zu kognitiven Beeinträchtigungen. Schätzungen zufolge sind weltweit circa 2,8 Millionen Menschen an MS erkrankt

    Zu Krankheitsbeginn leiden bis zu 90 Prozent der Betroffenen unter schubförmig remittierender MS (RRMS). Diese Form der Erkrankung ist zu Beginn gekennzeichnet durch klar definierte Schübe, gefolgt von Zeiten der partiellen oder gar vollständigen Remission.

    In Deutschland leben circa 250.000 MS-Erkrankte. (dpa)

    Vergangenen Sommer jedoch wurde der Kämpferin Margarete Heinrich klar, dass es vielleicht nicht immer so weitergehen wird. "Ich bin eines Morgens aufgewacht und war halbseitig gelähmt. Ich konnte keinen Löffel mehr halten und keine Zähne mehr putzen." Seitdem nimmt sie Medikamente, um zumindest den Status quo zu erhalten. Und sie hat beschlossen, über ihre Krankheit zu sprechen, damit hinter ihrem Rücken nicht andere über sie reden. Ein Vorbild ist ihr Malu Dreyer, die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, die ebenfalls an MS leidet. Auch eine starke Frau, über die die Krankheit keine Macht gewinnen konnte.

    Info: Im Rahmen der Veranstaltungen zum Welt-MS-Tag (30. Mai) bietet die Deutsche Multiple Sklerose-Gesellschaft (DMSG), Landesverband Bayern, mit Dr. Antonios Bayas, Leitender Oberarzt an der Klinik für Neurologie und klinischen Neurophysiologie am Universitätsklinikum Augsburg und MS-Experte, einen Online-Vortrag zum Thema "MS-Therapie der Zukunft – was können wir erwarten?". Der Vortrag mit Fragerunde findet virtuell am 31. Mai, von 18 bis 19 Uhr statt. Eine Anmeldung ist bis 29. Mai per E-Mail an pr@dmsg-bayern.de möglich.

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