Heidrun Schubert steht vor dem Kühlregal, die Stirn in Falten gelegt, und sagt: „Schon wieder so ein Fall.“ Dieses Mal ist es die Truthahn-Fleischwurst, in Scheiben geschnitten und abgepackt. „Das, was wirklich ist, kann man kaum lesen“, schimpft die Ernährungsexpertin der Verbraucherzentrale Bayern. Dafür prangen andere, große Zeichen auf der Verpackung. „Geprüfte Provital Qualität“, „fettreduziert“ und „DLG prämiert“. Alles Logos, die dem Verbraucher nicht weiterhelfen. Alles Siegel, die keine sind, sondern Werbebotschaften.
Und es ist ja nicht allein die Truthahnwurst. Auf dem Krabbensalat steht etwas von „Geschmack aus gutem Grund“, auf dem Saft wird die „Vitamin-C-Garantie“ ausgelobt, auf der Tiefkühlpizza das „Wagner Sorgfalts-Prinzip“.
Wer mit offenen Augen einkaufen geht, stellt fest: Im Supermarkt gibt es kaum ein Lebensmittel, auf dem kein Label aufgedruckt ist. Weil fast jedes Produkt eine Besonderheit hat, das sich bewerben lässt. Weil es bio, vegan und vegetarisch ist. Weil es ohne Gentechnik, ohne Zusatzstoffe oder ohne Geschmacksverstärker hergestellt wurde. Weil es gut für die Umwelt ist, gut für die Erzeuger, gut für die Region. Nur: Wer soll da noch durchblicken? Wer soll da noch verstehen, welches Siegel etwas taugt? Welchem man vertrauen kann?
Schubert steht vor einer gewaltigen Tiefkühltruhe in einem Münchner Supermarkt, schüttelt den Kopf und sagt: „Da kennt sich kein Verbraucher mehr aus.“
Wie viele Siegel es mittlerweile gibt, kann niemand sagen. Man käme mit dem Zählen auch kaum hinterher – denn es werden immer mehr. Die Verbraucherinitiative, die das Internet-Portal label-online.de betreibt, schätzt, dass allein auf dem deutschen Markt 1000 Zeichen existieren, davon knapp 200 im Lebensmittelbereich. Andere gehen davon aus, dass es allein im Supermarkt bis zu 400 verschiedene Siegel gibt. Die, die etwas über die Art des Anbaus sagen. Die, die angeben, wie das Produkt kontrolliert wurde. Die, die darauf hinweisen, wo die Rohstoffe herkommen.
Hersteller wollen mit Siegeln ihre Produkte besser verkaufen
Warum das so ist? Schubert greift nach einer Packung Butter, zeigt auf das „Weidemilch-Prinzip“-Logo und sagt: „Die Hersteller gehen davon aus, dass sich ihr Produkt dann besser verkauft.“
Tatsächlich aber scheint es, als würde diese Flut an Zeichen die Verbraucher eher verwirren als sie zum Kauf animieren. Als wäre das einzelne Siegel immer weniger wert, weil es immer mehr davon gibt. Das legt zumindest der aktuelle Ernährungsreport im Auftrag des Bundeslandwirtschaftsministeriums nahe. Danach orientieren sich nur 35 Prozent der Konsumenten beim Einkauf an Siegeln. Geschmack, Herkunft, der Preis, sogar die Marke spielt eine deutlich größere Rolle.
Christian Schmidt dagegen findet, dass es nicht genug Siegel gibt – zumindest nicht in jedem Bereich. Auf der Grünen Woche, der weltgrößten Ernährungsmesse, die derzeit in Berlin läuft, hat der Landwirtschaftsminister nun seine Pläne für ein neues, staatliches Tierwohl-Label vorgestellt. Schweine- und Hähnchenmäster sollen mit einem oder zwei Sternen ausgezeichnet werden – je nachdem, wie weit die Haltungsbedingungen in den Ställen über die gesetzlichen Vorschriften hinausgehen. 88 Prozent der Verbraucher, schiebt der CSU-Minister zur Erklärung nach, sind bereit, mehr für Fleisch zu zahlen, wenn die Tiere nur gut gehalten wurden.
Eine Frau hetzt am Kühlregal vorbei, greift nach Joghurt, Sahne, Frischkäse – ohne groß einen Blick auf die Verpackung zu werfen. Einkaufen, sagt Schubert, ist eingeübtes Verhalten. Weil es schnell gehen muss. Und weil man doch immer wieder die gleichen Dinge kauft. Butter, Eier, Wurst. Toast, Müsli, Gemüse.
Schubert aber steuert auf das Regal mit der Milch zu. Weil man da am besten erklären kann, dass es auch viele sinnvolle Siegel gibt. Das grüne Quadrat etwa, auf dem „Ohne Gentechnik“ steht. Das Label mit den Rauten und der Aufschrift „Geprüfte Qualität Bayern“, wenn man etwas für die heimischen Bauern tun will. Oder die Produkte von Regionalinitiativen wie „Unser Land“ oder „Von Hier“.
Ein paar Meter weiter, an der Fleischtheke, aber hat es der Kunde deutlich schwerer. Es gibt das Hähnchenbrustfilet aus konventioneller Haltung für acht Euro das Kilo oder, im Regal daneben, die Variante mit Bio-Siegel für 28 Euro. Letzteres ist vielen zu teuer. Ein Zwischending – Fleisch aus artgerechter Tierhaltung, das noch dazu als solches gekennzeichnet ist – gibt es, sagt Schubert. Finden aber kann sie es hier nicht.
Der Deutsche Tierschutzbund zertifiziert zwar seit einigen Jahren Schweinefleisch und Geflügel von ausgewählten Mastbetrieben, ebenso die Organisation „Vier Pfoten“. Der Marktanteil von Fleisch aus artgerechter Tierhaltung jedenfalls liegt unter einem Prozent.
Warum also braucht es noch ein Tierwohl-Siegel, wenn die bestehenden schon nicht funktionieren? Wie soll der Kunde nur verstehen, welches verlässlich ist? Und ist es sinnvoll, dass es mehr als 30 Bio-Siegel auf dem Markt gibt? Wer kann schon erklären, was genau das EU-Bio-Logo aussagt – wenn die Richtlinie knapp 100 Seiten umfasst? Wer kann nachvollziehen, was EU-Bio von den Bio-Siegeln von Aldi, Edeka oder Rewe unterscheidet? Oder welcher Anbauverband die strengsten Kriterien hat: Bioland, Naturland, Demeter?
Bundesregierung informiert im Internet über Lebensmittel-Siegel
Geht es nach der Bundesregierung, muss der Konsument sich schon selbst schlaumachen. Auf dem Portal label-online.de, das vom Verbraucherschutzministerium gefördert wird, kann der geneigte Kunde eingeben, für welches Label er sich interessiert, erfahren, wer es vergibt und welche Qualität dahintersteckt. Das Vegan-Siegel, ausgelobt vom Vegetarierbund, gilt den Experten zufolge als „besonders empfehlenswert“, zum „Wagner Sorgfalts-Prinzip“ aber geben sie ebenso wenig ein Urteil ab wie zur „Qualitätsgarantie“ von Maggi.
Wird der Einkauf im Supermarkt künftig zur langwierigen Angelegenheit, weil man an der Kühltheke erst das Smartphone herausholen muss, um das Siegel zu überprüfen? Oder machen wir es uns zu einfach, wenn wir allzu blind manchen Werbebotschaften vertrauen? Das sieht zumindest Heidrun Schubert so. Und sie muss noch einmal zurück zum Kühlregal, um das zu erklären.
Da ist der Käse, auf dem „laktosefrei“ steht – was aber bei Hartkäse von Natur aus so ist. Die Geflügelsalami, die, wie man erst im Kleingedruckten sieht, Schweinespeck enthält. Oder, ein Regal weiter, die Schokolade, die „ohne künstliche Farbstoffe und Konservierungsstoffe“ auskommt – obwohl das für jede Schokolade gilt, „weil ja der Zucker konserviert“.
Große Lebensmittel-Rückrufe in den vergangenen Jahren
Mai 2009: In dem Erfrischungsgetränk Red-Bull-Cola ist Kokain nachgewiesen worden. Es gab eine hessenweite Rückrufaktion für das betreffende Produkt.
Februar 2010: Nach mehreren Todesfällen wegen verseuchtem österreichischem Käse hat die Handelskette Lidl erneut vor einem bestimmten Harzer Käse gewarnt. Im Käse sind Listerien entdeckt worden. An diesen Bakterien im Käse waren 2009 zwei Deutsche und vier Österreicher gestorben, weitere zwölf Menschen erkrankten.
November 2011: Netto hat in seinem Räucherlachs Listerien gefunden. Die Bakterien können zu ernsthaften Erkrankungen führen - der Lebensmitteldiscounter startete eine umfangreiche Rückrufaktion.
August 2012: Die Curry-Gewürzzubereitung von der Hartkorn Gewürzmühle GmbH kann Salmonellen enthalten.
September 2012: Die Firma Lackmann Fleisch- und Feinkost GmbH in Bühl ruft die Produkte Putenfleisch im eigenen Saft und Pferdefleisch im eigenen Saft zurück. In einzelnen Proben wurde festgestellt, dass die Lebensmittel nicht erhitzt wurden.
August 2013: Im Selleriesalat von Ewald-Konserven wurden Glasscherben nachgewiesen.
Februar 2014: Milupa ruft Aptamil, die Spezialnahrung für Frühgeborene, zurück. Darin wurde ein überhöhter Jodgehalt festgestellt.
Dezember 2014: Maggi ruft seine Gemüsebrühe zurück. Grund dafür sind Glassplitter in der Brühe.
Januar 2015: Zimbo ruft unter anderem Schinkenwurst, Bierwurst und Jagdwurst zurück. In den Produkten können sich kleine Aluminiumteile befinden. Sie könnten Listerien enthalten, diese sind in seltenen Fällen sogar tödlich.
Januar 2015: Rückruf von Chio Dip! Hot Cheese und Chio Dip! Mild Salsa. In einigen Gläsern waren Glassplitter gefunden worden.
Februar 2016: Mars ruft nach dem Fund eines Kunststoffteils in einem Snickers mehrere Millionen Schokoriegel in 55 Ländern zurück. Ein deutscher Kunde hatte ein Plastikteil entdeckt; es stammte nach Angaben von Mars von einer Schutzabdeckung im Herstellungsprozess.
August 2017: Aus den Niederlanden gelangen Millionen Eier nach Deutschland, die mit dem Insektenschutzmittel Fipronil verseucht sind. Viele Geschäfte und Ketten in fast allen Bundesländer sind betroffen, die die Eier aus den Regalen nehmen müssen.
Schubert fordert, dass die Kunden sich mehr damit auseinandersetzen, was in der Zutatenliste steht, Inhaltsstoffe vergleichen, sich Zeit nehmen beim Einkauf. „Beim Öl fürs Auto und beim Wein, da informiert man sich doch auch, was drin ist. Warum nicht bei dem, was wir jeden Tag essen?“
Sylvie Ahrens ist da anderer Meinung. Die Foodwatch-Sprecherin sagt: „Der Verbraucher kann sich doch nicht über jedes Siegel informieren.“ Die Verbraucherschutzorganisation hält nichts von Labeln – weil sie dem Konsumenten Transparenz beim Einkauf vorgaukelten, das aber tatsächlich nicht leisten. Hervorgehoben werde viel zu oft nur, was der Hersteller hervorheben will. „Gutes aus der Region“ heißt es etwa, oder „aus der Heimat“. Doch weil der Begriff „Region“ nicht definiert ist, weil es keine gesetzlichen Vorgaben gibt, müsse der Kunde letztlich glauben, was auf dem Etikett steht. Und allzu oft, sagt Ahrens, sind es geschickt verpackte Werbebotschaften. „Der Verbraucher kann nicht sicher sein, dass er das kriegt, was er erwartet.“
Lebensmittel-Siegel zeichnen die Qualität der Produkte aus
Nur: Wie löst man dieses Dilemma? Die Siegel allesamt abschaffen, wie Foodwatch das fordert, und stattdessen die Produkte nach Inhaltsstoffen, Zusatzstoffen, Anbauweise kennzeichnen? Achim Spiller hält nichts davon. Der Agrarökonom, der an der Universität Göttingen lehrt, sagt: „Siegel sind wichtig, denn sie zeichnen Qualitäten aus, die man dem Produkt nicht ansehen kann, die man nicht schmecken und nicht überprüfen kann.“ Etwa, aus welcher Region die Äpfel stammen, die für den Saft verwendet wurden, oder ob das Schnitzel in der Kühltruhe aus artgerechter Tierhaltung kommt.
Spiller sagt, dass verpflichtende Regeln fehlen. Weil heute jeder Hersteller mit dem Begriff „artgerechte Tierhaltung“ werben dürfe, ohne dass es dafür nachvollziehbare Kriterien gebe. Und dass es Aufgabe des Staates sei, das Siegel-Wirrwarr im Supermarkt zu lösen – mit wichtigen, aber verlässlichen Siegeln. „Es bedarf einiger weniger staatlicher Label für zentrale Produkteigenschaften wie Tierschutz, Umweltschutz, Nachhaltigkeit und Regionalität. Und die muss der Staat auch bekannt machen, damit sich die Verbraucher auskennen.“
Schubert steht vor dem Ölregal und sucht das eine, das verlässliche Logo. „Die Zeichen sind aber auch so klein“, murmelt sie. So einfach ist die Sache wirklich nicht. Weil es ja drei dieser EU-Siegel gibt, die etwas über die Herkunft der Produkte aussagen, und weil alle drei ähnlich aussehen. Aussagekräftig aber ist nur eines, sagt Schubert: das gelb-rote Logo mit den Sternen und der Aufschrift „Geschützte Ursprungsbezeichnung“. Nur das, erklärt die Ernährungsberaterin, besagt, dass die Oliven aus Griechenland kommen, dort verarbeitet und abgefüllt wurden. Oder dass der Allgäuer Emmentaler aus der Milch von heimischen Kühen gemacht wurde.
Das zumindest, sagt Schubert, sollte man sich doch merken.