Wo genau könnte der Mehrwert liegen, wenn man Bücher, vorwiegend Romane, nicht nur für sich alleine liest und danach ins Regal stellt, sondern sie gemeinsam in einer Runde Gleichgesinnter im eigenen Wohnzimmer bespricht oder diskutiert? Erst einmal wird man dann Teil einer langen Tradition. In Frankreich wurden die ersten „Salons“ zum Gespräch über Philosophie und Literatur bereits im ausgehenden 16. Jahrhundert gegründet. Größtenteils waren Frauen die Gastgeberinnen. Die daraus entstehende Salonkultur verbreitete sich allmählich in Europa. Als erste deutsche Salongründerin gilt die Berliner Schriftstellerin Henriette Herz (1764-1847). Die Salonkultur kam in Deutschland am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts regelrecht in Mode und diente nicht zuletzt auch der Emanzipation.
Heute kennt man die professionellen Kritik-Runden aus dem Fernsehen, erinnert man sich immer noch an das Literarische Quartett mit dem legendären Marcel Reich-Ranicki, das von 1988 bis 2001 ausgestrahlt wurde. Doch diskutiert wird auch im privaten Kreis. Die Autorin dieser Zeilen ist seit vielen Jahren bekennendes Mitglied eines in Augsburg und Umgebung gegründeten Lese-Zirkels, der sechsmal im Jahr trefflich über Sinn und Unsinn, Gefallen oder Missfallen diskutiert, über Bücher, die man zuvor gemeinsam ausgesucht hat. Versüßt werden diese literarischen Zusammenkünfte mit einem leichten Dinner, für das der jeweilige Gastgeber des Abends verantwortlich ist. Doch gilt bei den passionierten „Literati Augusti“: erst die Arbeit, dann das Vergnügen!
Anfangs gab es noch zwei Verfahren bei der Auswahl der Bücher
In Summe rund 60 Romane wurden seit dem Jahr 2014 in diesem Kreis „verschlungen“. Neben der Autorin dieser Zeilen setzt sich der Kreis aus zwei Frauenärztinnen, einem Energieberater, einem Cellisten, einer Pianistin und Feldenkrais-Lehrerin, einem Trompetenprofessor sowie einem Diplom-Informatiker zusammen. Als wir anfingen, gab es noch zwei Verfahren beim Lesen und Besprechen der Bücher. Entweder eines der Mitglieder stellte „verdeckt“ ein Buch vor, indem er einige Passagen daraus laut vorlas, um sich dann zusammen in einem Quiz-ähnlichen Prozess den Autorinnen und Autoren, dem Erzählstil, der sprachlichen Qualität und natürlich dem Sujet zu nähern. Oder man entschied sich nach diversen Vorschlägen, gespeist aus Empfehlungen und Zeitungskritiken, für ein bestimmtes Buch, das bis zum nächsten Treffpunkt von allen gelesen und dann in einem geregelten Nacheinander der individuell gewonnenen Eindrücke diskutiert wird.
Seit Längerem wird die letztere Variante favorisiert, sie scheint erkenntnisreicher. Oft steht dabei die Leitfrage „Warum würde ich dieses Werk meinen Freundinnen und Freunden weiterempfehlen – oder auch warum nicht“ im Zentrum. Und immer wieder gibt es ziemlich große Überraschungen, was einmütige Begeisterung oder auch Ablehnung des Lesestoffs betrifft. Zuletzt etwa nach der Lektüre des mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichneten Buchs „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ von Mohamed Mbougar Sarr (2022 bei Hanser im Hardcover erschienen, 448 Seiten).
Interessant wird es bei kontroversen Urteilen
Die Hälfte der „Buchzirkler“ war davon überzeugt, dass es sich um ein wahres literarisches Meisterwerk handele, das den Leser fordere und fessele, erzählerisch kühn und vielschichtig komponiert sei und den inneren „Kampf“ eines Schriftstellers sowie das Geheimnis eines senegalischen Kultbuches einkreise. Die andere Hälfte war dagegen so irritiert bis genervt von dem Schreibstil, dass sie beschlossen hatte, das Buch nicht zu Ende zu lesen. Meist sind es gerade die Bücher, die kontrovers aufgenommen werden, die zu den intensivsten Diskussionen führen.
Nicht selten sorgen Bücher allerdings auch für einstimmig gute Leselaune - dazu zählte jüngst etwa Edgar Selges Roman „Hast Du uns gefunden“. Es bleibt eine kleine, aber lohnende Herausforderung, die eigene Meinung begründet vorzutragen - durchsetzen muss man sie in diesen Runden definitiv nicht. Im Vordergrund steht die Bereicherung durch den Austausch. Die Mitlesenden entdecken viele Aspekte, die man selbst „überlesen“ hat. Und so ist es die Offenheit und nicht zuletzt auch der gesellige Effekt, den man als Bücher-Freund im Kreis Gleichgesinnter genießen darf. Somit gilt: Lese-Zirkel sollten nie aus der Mode kommen!
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