Wie ein Sturm fegte Eugen Drewermann im Annahof auf Einladung von Pax Christi und weiterer friedenspolitischer und antifaschistischer Organisationen über die moralischen Erhebungen der politischen Sprache hinweg. „Wir müssen Putin vertrieben haben, erst dann kann es Verhandlungen geben, sagen sie. 100 Milliarden für rüsten, rüsten, rüsten. Rheinmetall freut sich“, deklamiert der Theologe, Psychotherapeut und Autor. 500.000 Tote gebe es schon, ab wann bekämen Politiker Skrupel? All das Gerede vom guten Westen und bösen Russland diene der Kampfvorbereitung. Die ist bipolar, antithetisch, identifiziert das Gute eindeutig hier, das Böse beim Feind.
Vor der Bühne im Augustanasaal steht ein Tisch mit Stuhl, zur Auswahl links daneben das Rednerpult mit Mikro. Doch Drewermann, 83, steigt auf die Bühne: Er sucht den höchsten Punkt, von dort oben predigt er. 70 Minuten steht der Theologe und Psychoanalytiker da, das Mikro in der Hand. Manchmal wird er laut, schreit, hebt den Zeigefinger, manchmal zuckt er resigniert die Schultern, lässt die Arme hängen. Brillant, druckreif, den Blick starr auf den mit 150 Menschen voll besetzten Augustanasaal gerichtet mahnt er, auf den Gesang der Engel in Bethlehem zu hören, auf die Bergpredigt statt auf den Staat, der seine Bürger auf Angst und Krieg einschwört.
Jesus gibt für Drewermann das Vorbild
Die Bergpredigt ist das Zentrum von Drewermanns Ethik und Kritik. Laut Matthäus-Evangelium, Kapitel 5 bis 7, war Jesus auf den namentlich nicht überlieferten Berg in Galiläa gestiegen, warnte sowohl seine Jünger als auch weitere Zuhörer vor der Gewaltspirale, die aus Angst, Misstrauen und Rache entsteht. Laut Drewermann eine Vorlage zum Handeln. Auch der Palmsonntag in Jerusalem zeige, wie Jesus radikal friedenspolitisch handelte. Obwohl ihn die Menge als zweiten König David sah, der wie schon der erste David ein großes Reich erschaffen würde, ritt er auf einem Esel in die Stadt ein. „Er bekämpfte nicht die Römer, wie die Leute erwarteten, sondern lud im Gegenteil sogar ihre Zöllner ein“, so Drewermann. Die Botschaft für heute: Wenn wirklich jemand von Gott komme, Christ sei, dann werde er abrüsten.
Drewermann ist sich über die Jahrzehnte treu geblieben. Ein Theologe und radikaler Kritiker des organisierten Christentums, dem die Kirche 1991 die Lehrbefugnis entzog. Als gern gesehener und gehörter Gast auf unzähligen Friedensdemonstrationen sorgte er für einen Kompass in Zeiten des Wettrüstens zwischen Ost und West, beim Nato-Doppelbeschluss und bei den ab den 1990er-Jahren vom Westen geführten Kriegen in Nahost. Auch die Zustimmung der Grünen zum Eingreifen in den Jugoslawienkrieg 1995 wird von ihm verurteilt. Er ist ein radikaler Pazifist, intellektuell, mit der Gabe, Menschen mitzureißen. Auch wenn er das Neue Testament als friedenspolitischen Auftrag liest, ist seine humanistische Bildung viel zu umfassend, als dort stehenzubleiben.
Drewermann schildert die Folgen des Kriegs
In seine flammende Rede fließen Erich Maria Remarque, Wolfgang Borchert, Kurt Tucholsky und Sigmund Freud ein, aber auch die roten Fäden der politischen Weltgeschichte, wie er sie sieht. Ein Staat gelte als „Hüter der Ordnung“, er verbiete Mord, Lüge, Totschlag. Doch nicht, um sie abzuschaffen, sondern um ein „Monopol“ darauf zu haben. Die Verweigerung von Gehorsam und einer soldatischen Erziehung durchbreche die Tötungsspirale, so Drewermann. Wie Tucholsky sage: Soldaten sind Mörder. Das Ergebnis von Kriegen sei auch in dieser Hinsicht furchtbar, Hunderttausende kehrten mit posttraumatischen Stresssymptomen nach Hause. Das Morden verfolge sie bis in den Schlaf. Manche erleichterten sich erst auf dem eigenen Sterbebett, erzählten von ihren Taten und Erlebnissen, erklärt Drewermann.
„Ersetzen Sie den Gehorsam durch Individualität, Mündigkeit, Autonomie, ein eigenes Gewissen“, ruft er den Zuhörern zu. Er klagt die „Zeitenwende“ von Olaf Scholz an, eine Fortführung der Blutspur zu sein, die sich in zahllosen Kriegen durch die Menschheitsgeschichte zieht. Demnach verkündete Scholz mit seiner Rede zur Begründung des 100-Milliarden-Sonderrüstungsprogramms im letzten Jahr das Gegenteil von Wende, sondern lediglich das Ende einer nur wenige Jahrzehnte dauernden Kriegs- und Rüstungspause in Europa.
Drewermanns Rede im Augustanasaal und sein in diesem Jahr erschienenes Buch „Nur durch Frieden bewahren wir uns selber – die Bergpredigt als Zeitenwende“ ist radikal und einseitig pazifistisch. Für Christen eine klare Haltung. Für Politiker und den Krieg an der Grenze Europas aber derzeit wohl keine Option.