Ein Ort zum Schauen, Gruseln, Träumen, dieses Kühlerhaus am Gaswerk. Es versprüht die Patina untergegangener Industrie. Während das Premierenpublikum von „Nüchtern“ noch schaut, erwachen unter der hohen Kuppel drei Gestalten zitternd zum Leben. Ein Monster mit Nashornkopf und freischwingender Wirbelsäule (Klaus Müller), eine Spinne mit dem schwarzen Pelz (Natalie Hünig) und der vorzeitig gealterte Junge mit den bodenlangen Armen (Paul Langemann) schwanken furchteinflößend auf die voll besetzten Zuschauerreihen zu.
Es habe Schwierigkeiten gegeben, Jahrzehnte habe es gedauert, bis er „den Dingen einen Namen geben“ konnte, erscheint in weißen Lettern auf der kahlen Wand. Auf den beiden gekachelten Podesten unten räkeln sich die Monster ins Leben. Sie sprechen nicht, tappen nur raumgreifend schaukelnd über die Bühne. Traurig wirkt der Junge mit dem riesigen Kopf und den Spaghettihaaren. Seine Arme mit ihren über den Boden schleifenden Händen wirken wie die Verlängerung seiner herabhängenden Mundwinkel. Schleppend schlurft er auf seinen dreizehigen Riesenfüßen über den Beton, versucht, Spinne und Nashorn zu wecken. Die Gesprächsfetzen mit den weißen Buchstaben erzählen: Die Tante hat gesagt, die Mama sei Alkoholikerin. Ob das was Schlimmes ist? Dass etwas anders ist bei ihm zu Hause, das habe er schon als Vierjähriger erkennen können, steht da. „Zum Beispiel Kindergeburtstag. Bei anderen war großer Bahnhof. Bei uns hat es niemand geschafft, eine Runde Topfschlagen zu organisieren.“
"Nüchtern" am Staatstheater: Gift schleicht sich ein
Mit dem Ablegen der Monsterkostüme wechselt die Szene und blendet zurück in eine kindliche Erinnerungswelt. Eine Familienfeier mit Cousins, Kegelclub und Kirchenchor. Wie das so üblich ist, werden Trinkgeschichten zum Besten gegeben, zum Beispiel die von dem verstorbenen Mann von Tante Margot. „Der konnte alle unter den Tisch saufen.“ Doch schnell schleicht sich das Gift ein, das die Unbeschwertheit solcher Feiern an bestimmten Punkten zum Kippen bringt. Beim unvermeidlichen Gedichtvortrag findet der Gastgeber die Worte nicht, wird zornig, jähzornig. Den Gedächtnis- und Kontrollverlust spürt er selbst und flüchtet sich in das Kostüm des Nashorns mit den roten Augen zurück.
„Die Erinnerungen verschieben sich“, wirft der Beamer an die Wand. Die Melancholie der Mutter vor der Betankung und das Nudelholz, mit dem sie ihn, das Kind, durch die Wohnung jagte. Kann das wahr gewesen sein? Kann eine Mutter einem Kind das antun? Hilfe gab es keine. Die Nachbarn wussten Bescheid, sie hörten die Mutter schreien und sahen sie regelmäßig aus dem Haus torkeln. „Auch das Jugendamt wusste Bescheid. Das kam einmal in der Woche zum Putzen.“
Indessen wechseln die Settings in lockerer Folge. Mal eine Fernsehshow mit dem Auftritt der ge- und überforderten Mutter. Sie brauche Entspannung, dann trinke sie. Was sei schon dabei. „Ich bin nicht perfekt, aber trotzdem eine gute Mutter.“ Dann drei Freunde, die zusammenstehen und feilschen, wie sie die drei ausgemachten alkoholfreien Tage in der Woche nach hinten, in den nächsten Monat, in die kommenden Jahre, gar bis in die Rente verschieben können. Im Publikum sieht man zustimmendes Nicken. Berechnet man die Lebenserwartung mit ein, kann man noch elf Jahre jeden Tag weitertrinken und danach die alkoholfreien Tage einhalten.
"Nüchtern" am Staatstheater: Dramaturgisch geschickt gebaut
Eine begeisternde Premiere an einem selten zugänglichen Ort. „Nüchtern“ ist ein klug gemachtes Psychogramm über Persönlichkeiten, Entgrenzung und Kontrolle. Überraschend leichtfüßig, spielerisch und fantasievoll inszeniert (Christina Jung, Hannah Baumann), setzt das Stück die realen Geschichten der Kinder von Alkoholikern zu einer Welt zusammen. Die Ebene mit den an die Wand gebeamten Chats ist dramaturgisch geschickt eingesetzt und geben dem Bühnengeschehen einen dokumentarischen Charakter. Poetisch schön die Monster als Metaphern für die Sucht, die irgendwann da ist und nicht mehr geht. Die drei Darsteller überzeugen mit Körpereinsatz, inklusive Rock und Tanz. Auch Techno blitzt kurz auf: bodenlange Arme, die Finger zum Metal-Gruß erhoben – Lacher im Publikum. Überhaupt die Kostüme: Meisterhaft gearbeitet (Karoline Schreiber) sind sie wie der Traumwelt von Kindern entsprungen, die mal spielerisch, mal mit Entsetzten ihre Umwelt im Schlaf verarbeiten.
Weitere Aufführungen am 23. und 30. Juni sowie am 4., 6. und 9. Juli jeweils 19.30 Uhr im Kühlerhaus auf dem Gaswerksgelände.