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Foto: Jan-Pieter Fuhr
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Martina Piacentino und Afonso Pereira in Nicolaos Doedes Choreografie "Dirt" im Rahmen des Kammer-Tanzabends "New Comer" am Staatstheater Augsburg

Staatstheater Augsburg
26.05.2024

Viel Lärm um wenig Tanz: Kammer-Tanzabend "New Comer"

Von Renate Baumiller-Guggenberger

Im „New Comer“-Tanzabend zeigen sich die drei Tänzer Nikolaos Doede, Alfonso López González und David Nigro als Choreografen – mit unterschiedlich großem Potenzial.

Viel seelischer Ballast, Eigenhass, jede Menge Schuld und Fehlverhalten in Form von Erde haben sich unter dem Campingstuhl angehäuft, auf dem es sich Afonso Pereira bequem gemacht hat. Der Augsburger Tänzer verkörpert auch darstellerisch überzeugend als cool rauchender Macho-„Mann“ die zentrale Figur in „Dirt“, einer Choreografie seines Company-Kollegen Nikolaos Doede für den Kammertanzabend "New Comer" in der Brechtbühne. Am Ende schaufelt Pereira den ganzen Dreck in die Tonne, um endlich erlöst und erleichtert abzugehen. Er ist mit sich im Reinen, hat sich zur Atmosphäre gebenden Musik von Arvo Pärt und Alfred Schnittke mit seiner in der Fantasie heraufbeschworenen Vergangenheit versöhnt und sich mit den offensichtlich reichlich schiefgelaufenen Beziehungen zu zwei Frauen (Martina Piacentino und Kako Kijima) konfrontiert. 

Mit intensiven tänzerischen Momenten und einer gut lesbaren Körpersprache, in denen Tristesse, Poesie und Humor fein ausbalanciert und musikalisch motiviert waren, gelang Nikolaos Doede dieser auch dramaturgisch schlüssig und sinnlich choreografierte Befreiungsschlag, der zudem mit den darin involvierten fünf Company-Kollegen optimal besetzt war. Seit 2017 ist er in Augsburg engagiert und für seine facettenreiche tänzerische Präsenz nicht von ungefähr auch mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet worden. Und so kam wie oft auch in der aktuellen Edition der „New Comer“-Serie des Balletts Augsburg das Beste zum Schluss. Dass Doede der elegante Sprung in die nächste Choreografen-Generation gelingt, scheint keine Frage. 

Choreografischer Nachwuchs stellt sich im Tanzabend "New Comer" auf der Brechtbühne vor

Und genau darum geht es in diesem bewährten, vom Publikum mit Neugier und Aufgeschlossenheit bedachten Tanzformat, das an den vielen großen Häusern meist zum Ende der Spielzeit sehr bewusst gepflegt wird. Auch im Tanz fallen die Meister ja nicht vom Himmel. So schätzen die Tänzerinnen und Tänzer die Chance, unter mehr oder weniger professionellen Konditionen ihre persönliche Befähigung zum komplexen Berufsbild eines kreativen Choreografen testen zu dürfen. 

Die „Jungen Choreografen“-Abende sind eine wertvolle Plattform, um mit Bewegung und Konzepten zu experimentieren und zu erfahren, wie gut sich die eigenen tänzerischen Visionen den eigenen Ensemblemitgliedern und dem Publikum vermitteln lassen.

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Foto: Jan-Pieter Fuhr
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Afonso Pereira und Kako Kijima in "Dirt" von Nikolaos Doede in der Brechtbühne

Letzteres profitiert meist auch von der stilistischen Vielfalt der zeitgenössischen Kurz-Choreografien und wird im besten Fall mit einem innovativen choreografischen Spirit überrascht. Anders als in den Vorjahren präsentierten sich diesmal nur drei „Mutige“ und so unterscheidet sich die „New Comer“-Vorstellung mit zwei Pausen und einer Gesamtlänge von zwei Stunden kaum von einem „regulären“ Triple Bill-Abend im Kammertanzformat. Als Klammer wirkt dabei das Bühnendesign von Felix Weinold, mit dem sich der Abend ebenfalls positiv von früheren Improvisationen oder Notlösungen in puncto Ausstattung abhebt. 

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"Good Luck out There": Zwanghaft wirkende Menschen in der Isolation

Mit seiner „Good Luck out There“ übertitelten Kreation führte der Spanier Alfonso López González in eine bis zuletzt beklemmend bleibende, mysteriös beleuchtete Isolations-Situation. Anfangs vier, später acht uniformierte (schwarze Einheitsperücken, graue Hosenröcke, Poloshirts, Kniestrümpfe-Halter) Personen gingen mit hoher Präzision zwanghaft wirkenden Beschäftigungsmustern an vier Tischen nach. 

Zunächst herrschte ein stiller Konsens unter den emotionslosen, mal resigniert, mal aufgeputscht wirkenden „Insassen“, der sich zunehmend auflöste, um sich in Duo-Konflikten oder exaltiertem Gruppen-Irrsinn mit riskantem Headbanging (ein Hoch auf die Maske, die die Perücken so toll fixiert hatte) zu entladen.

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Foto: Jan-Pieter Fuhr
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Eine Ensemble-Szene aus der Choreografie "Good Luck out There" von Alfonso López González

„I didn’t get it“ – Ich verstehe es nicht“ – diesen Satz kicherte, schrie sich hysterisch werdend an einer Stelle eine Tänzerin in ihrem Telefon-Solo aus dem Leib. Da konnte man sich als Zuschauer nur anschließen! Was genau diese Kreation motivierte, blieb ominös, schien nebulös. So hatte man das Ganze trotz versierter tänzerischer Umsetzung und durchaus reichlich gezeigtem Gespür für Dynamik, für gutes Timing, für Körper im Raum und Effekte schon nach der Pause wieder vergessen. 

"Ghost in the Machine" ist eine Spekulation über Geisterwesen

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Foto: Jan-Pieter Fuhr
Foto: Jan-Pieter Fuhr

Mateo Mirdita und Tomona Seike in David Nigros Choreografie "Ghost in the Machine".

Es folgte mit David Nigros „Ghost in the Machine“ eine nicht minder verwirrende, Science Fiction-inspirierte Kurzreise ins All, eine choreografische Spekulation über Geisterwesen, die womöglich als Ebenbilder der Erdenmenschen auftauchen.

Das alles bahnte sich im Septett-Lauf rund um eine in Schieflage geratene Erd-Scheibe (?) an. Auch hier demonstrierten die Mitwirkenden, dass sie im zeitgenössischen Metier nicht alleine organisch-fließende Moves beherrschen, sondern wo gefordert auch (englisch) sprechend ihren Part als Fulltime-Actor erfüllen können. Extrem laut, damit nervenstrapazierend und ärgerlich dominierte die wabernde Sound-Collage, die Nigro als Eigenschöpfung seinem Stück unterlegte, in dem bald eine skurrile Organ-Transplantation zum grotesken „Herzstück“ wurde. Das freundlich formulierte Fazit: Tanz kann auch extrem herausfordernd sein – schön, wenn es dafür die jubelnde Zustimmung von der großen Ballett-„Friends & Family“-Community gibt!

Kultur erleben – und zwar vom Sofa aus: Das Staatstheater bietet digitale Vorführungen an. In der Live-Ausgabe unseres Podcasts "Augsburg, meine Stadt" sagt Tina Lorenz, warum sie sich nicht vor der Konkurrenz durch Netflix und Co. fürchtet.

Augsburg-Podcast

Live-Podcast: Wie sieht das Theater der Zukunft aus, Tina Lorenz?

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