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Staatstheater Augsburg: Und ewig zürnt "Der Menschenfeind": Molière am Staatstheater Augsburg

Staatstheater Augsburg

Und ewig zürnt "Der Menschenfeind": Molière am Staatstheater Augsburg

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    Große Sause auf der Bühne: Party-Kulisse für den "Menschenfeind" am Staatstheater Augsburg, auf der Brechtbühne im Gaswerk.
    Große Sause auf der Bühne: Party-Kulisse für den "Menschenfeind" am Staatstheater Augsburg, auf der Brechtbühne im Gaswerk. Foto: Jan-Pieter Fuhr

    Die Kamera war damals noch lange nicht erfunden. Niemand guckte mit dick geschmollten Lippen in eine Handy-Linse, Selfies und Porträts „schossen“ sie damals mit Pinsel, Farbe, Leinwand. Und Briefpapier war das WhatsApp jener Tage. Trotzdem: Damals, im Jahr 1666, schrieb der französische Dichter Molière das Porträt einer Gesellschaft, die vor lauter Eitelkeit und Geschwätzigkeit gärig blubbert – und deshalb verdächtig gegenwärtig anmutet. Intrigen, Lügen, Gerüchte und die Sehnsucht, geliebt zu werden, das ist der Treibstoff in Molières Komödie „Der Menschenfeind“. Am Staatstheater Augsburg findet der Intendant André Bücker jetzt neue Bilder für diesen Klassiker. Digitalisiert, mit kleinen Updates. Er geht als Regisseur das Risiko ein, Molière in die Gegenwart zu stupsen, in das Zwielicht eines Nachtclubs. In den Orkus von WhatsApp, Instagram und Konsorten.

    Auf der Brechtbühne im Gaswerk beginnt die Happy Hour. In einer flauschigen, blau möblierten Disco-Kulisse thront ein Mann auf einer Empore, noch bevor die Hauptfiguren die Bühne betreten: Gott ist ein DJ, hoch oben auf seiner Wolke mixt er die Musik zum Stück. Sphärenklänge zwischen den Szenen. Beat über dem Tumult der Dialoge. Stille in dramatischen Momenten. Dieser Soundtrack, den Bühnenmusiker Lilijan Waworka auf seinem Podest produziert, schmiegt sich an die Musik der Sprache. Und die ist bei Molière gereimt. Vers um Vers, von Pointe zu Pointe. Lässt sich der Stil der alten Reime ins heute übersetzen?

    An der Wand leuchten bei Molière Chat-Nachrichten auf

    Der Schriftsteller Andreas Hillger hat für das Staatstheater neue Texte in Molières Manier gedichtet: An der Bühnenwand leuchten Chat-Nachrichten auf, die Hauptfiguren des Stücks tippen ihr privates Party-Geplauder in ihre WhatsApp-Kanäle. Nein, Hillger versucht erst gar nicht, sich dabei an Molières poetische Höhe heranzudichten. Aber schrullig, heutig, lustig liest sich das allemal: „Ich bin gleich fertig, keine Panik, noch schwanke ich – Manolo Blahnik oder doch die Roten Sohlen, der Teufel soll den Zweifel holen.“ Konsum und Dekadenz, 1666 wie 2023. Das Publikum lacht und liest. 

    Doch dann stampft der Spielverderber ins Licht: Kai Windhövel spielt mit Inbrunst Alceste den Menschenfeind, diesen Griesgram auf Kreuzzug für das Gute, Wahre, Schöne. Ein Herr wie er muss an der Welt verzweifeln, denn verlogen ist die Menschheit, schwer verdorben, maximal Mittelmaß. Es ist ein Vergnügen zu erleben, wie Windhövel seine Sätze durch die Zähne presst, cholerisch an seinem Jackett zupft. Wie dieser enttäuschter Idealist ächzt und japst, wenn ihm sein Konkurrent Oronte ein selbstgeschwurbeltes Schüttelreim-Gedicht vorträgt. Wahrheit, guter Stil und Poesie? Gibt es dafür keinen Instagram-Filter? Und doch, im Herzen ist Alceste auch ein Liebender: „Die Vernunft hat es mir oft gesagt, doch wann hat Liebe die Vernunft gefragt?“

    Ein Ensemble am Staatstheater Augsburg mit Spaß am Tohuwabohu

    Um diesen Alceste scharwenzelt ein Ensemble mit Spaß am französischen Tohuwabohu: Paul Langemann stakst als Sympathieträger Philinte ins Bild, als Berater seines Freundes Alceste, er meint es ehrlich gut mit dem Miesepeter. Zwei wie Papageno und Papagena: Philinte findet seine bessere Hälfte in Éliante. Mirjam Birkl entzückt in dieser Rolle mit Clownerie und Temperamentsexplosionen, eine herzenskluge Klimbim-Figur zum Gernhaben. Klaus Müller als Oronte wiederum, weißgeschminkt, dick gepudert, ringt um seine Verse, die er in seinem Handy notiert hat: „Ach liebe Zeit, was steht hier nur, das war die Autokorrektur!“ Ein schönes, wildes Gewusel von Typen, nach Shakespeares Art. 

    Und die Angebetete? Alcestes geliebte Célimene? Die tritt wie die Heldin ihres eigenen Stücks auf: Mirjana Milosavljevic behauptet sich durchaus glaubhaft in der Rolle als Freiheitsliebende, die sich einen Schwarm an Männern warmhält. „Wer jung ist, ist nicht gern allein, später kann man immer noch moralisch sein.“ Sie lässt die Männer antanzen – aber spürt doch die Last, den mächtigsten Herren gefallen zu müssen, um frei zu sein. Eine feministische Beobachtung.

    "Der Menschenfeind" - Molière lieferte mehr als nur Klamotte

    Molière schrieb die Komödie, als der Sonnenkönig über Frankreich herrschte. Ludwig XIV. fand Gefallen an Molières Komödien – und der lieferte ihm mehr als nur Slapstick und Klamotte. Für die Inszenierung in Augsburg hat Imme Kachel Kostüme geschneidert, die jenes Alte mit dem Heutigen hübsch verknüpfen: Das Partyvolk verziert sich mit gezwirbelten Locken und Schönheitsflecken, weiten Röcken, Thomas-Gottschalk-Anzügen und knöchelbruchhohe Hacken – eine barocke Punk-Modenschau, als hätte Vivienne Westwood vom Sonnenkönig geträumt. 

    In manchen Phasen kreiselt sich die parfümierte Modenschau fast in einen Drehwurm. DJ-Beats über Chat-Nachrichten über fein gestanzte Reime – das ist schon dicke viel für den Sinneapparat. Da tut es gut, dass die Hauptdarsteller die Verse nicht im Übertempo-Stakkato servieren, in den wichtigen Wortwechseln die Bremse finden.

    Alceste verlässt die WhatsApp-Gruppe

    Und am Ende geht, wie in einer Dorf-Disco um 5 Uhr früh, das Licht an und fällt auf verkaterten Seelen. Célimènes doppeltes, dreifaches, vierfaches Spiel fliegt auf. Eine mächtige Szene, in der jede Figur reinen Tisch macht – und einmal nicht am Handy klebt. Das ist der Moment, in dem Alceste so wirkt, wie ihn Molière im Original-Titel beschreibt: „Der Menschenfeind oder der verliebte Melancholiker.“ WhatsApp-Statusmeldung: Alceste hat die Gruppe verlassen. 

    Jahrhunderte fließen die Seine hinab und die Menschheit wird um keinen IQ-Punkt schlauer? Das ist der Gedanke, der als Echo diesen Theaterabend überdauert. Solche Menschen kennt man doch, aus der eigenen Nachbarschaft, dem Büro, der lieben Familie. Der Bilderbuchbürger, der einen Gerichtsprozess vom Zaun bricht, wenn die Hecke des Nachbarn über seine wuchert. Oder der Alceste von nebenan, der über nichtsnutzige Politiker schimpft. Selbsthilfe-Gurus wie er, die radikale Ehrlichkeit propagieren, um den Preis der Beleidigung. Und schon damals zweifelte man am Prinzip Ehe. Wenn Romantik-Influencer über offene Liebe und Polyamorie dozieren, klingt das wie Célimènes Klage. 

    Alles schon mal dagewesen? Alles ewig? Genau darin liegt Molières Schärfe, darauf liegt der Akzent der Inszenierung. „Wir Menschen gelten als vernünftige Wesen. Wer das behauptet, ist nie Mensch gewesen.“

    Info: "Der Menschenfeind" auf der Brechtbühne im Gaswerk. Nächste Vorstellungen: 10. Dezember, 23. Dezember, 17. Januar.

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