Für das Publikum soll der Abend die Wundertüte sein, exzellent geprobte Stücke, erwartbar pannenlose Aufführungen. Doch hier, an diesem Abend im Alten Rockcafé ist es anders. Die Schauspielerin (Natalie Hünig) kommt blank auf die Bühne. Keinen Text gesehen, geschweige denn gelernt, keine Proben vorher, nichts. Einen Umschlag und ein Fläschchen mit weißem Pulver bekommt sie überreicht. Im Umschlag ist der Text zum Stück, und dass das Fläschchen keine Globuli enthält, ist klar. Auf der Bühne ein Tisch mit zwei Wassergläsern, eine Leiter. Etwa 30 Zuschauerinnen und Zuschauer sind im Raum, dass sie heute Abend mehr als nur zuschauen müssen, wissen sie noch nicht.
"white rabbit, red rabbit" bietet im Alte Rockcafé ein Abenteuer
„white rabbit, red rabbit“ (Weißes Kaninchen, rotes Kaninchen) ist ein absurdes Abenteuer. Der Autor und Dramatiker Nassim Soleimanpour nimmt „seine“ Schauspielerin als Medium. Es geht im Stück um Befehle, Manipulation, Gehorsam und Schweigen. Das ist auch das Umfeld, in dem Soleimanpour in Teheran sich seit seiner Geburt 1981 bewegt. Er ist die Generation, die nach der Islamischen Revolution in Iran mit Geheimdiensten, Religionspolizei und Wächtern aufgewachsen, gleichzeitig informiert und gut ausgebildet ist. Nicht nur der öffentliche Raum wird kontrolliert, sondern Spitzel und Wanzen lauern in allen Ecken des privaten Lebens. Wem ist zu trauen, wer ist solidarisch – diese Fragen stellt der Autor im Stück. Aber sie sind auch universell, und deswegen funktioniert die Beklemmung in seinem Stück weltweit. 3000 Mal in 50 Ländern und 30 verschiedenen Sprachen wurde es seit der Uraufführung 2012 gespielt. Soleimanpour, gegen den wegen Wehrdienstverweigerung eine dauerhafte Ausreisesperre verhängt wurde, schickt sein Stück und sich selbst auf Weltreise.
„Ich kenne weder Tag noch Jahr Ihrer Existenz“, erklärt der Autor dem Publikum. „Ich bin 29, voller Hoffnung und Energie. Ich habe keinen Pass und muss vorsichtig sein beim Schreiben, Sprechen und Trinken. Sie sind meine Zukunft.“ Zu wissen, dass ihm Leute in aller Welt zuhören, sei eine Reise, für die man keinen Pass braucht. In jeder Vorstellung ist für ihn ein Platz in der ersten Reihe freizuhalten. „Das schmeckt nach Freiheit“, liest Hünig.
Absurdes "white rabbit, red rabbit": Die Jagd auf das Kaninchen beginnt
Der Plot ist absurd, dramatisch und verwickelt. Ein Kaninchen will ins Theater, steht am Eingang, wo es von einem Bären aufgehalten wird. Beide sind von Zuschauern gespielt, die, entsprechend den Anweisungen des Autors, aus dem Publikum geholt wurden. Das Kaninchen hat kein Ticket, außerdem soll es die unkeuschen Ohren mit einem roten Hut bedecken. Der Bär beginnt über Funk mit anderen Bären zu kommunizieren, schließlich beginnt die große Jagd auf das Kaninchen. Krähen spielen eine unheilvolle Rolle, ein Straußenvogel (Natalie Hünig) flüchtet mit langen, ausgreifenden Schritten.
Geschickt manipuliert Soleimanpour zum Mitmachen. „Machen Sie Hasenzähne, Nummer 2 im Publikum soll das fotografieren und an meine E-Mail schicken.“ So geschieht es, die E-Mail-Adresse steht im Script. Soleimanpour wird eine ganze Wand voll verrückter Leute auf Tausenden Bühnen haben, die mit vorgeschobenen Schneidezähnen und hochgezogenen Oberlippen in die Kamera grinsen. In der hinteren Reihe, da sitze eine schöne Frau, „schauen Sie sie an“. Publikum dreht sich um. Dann, mitten hinein in die Zirkusstimmung: Die Schauspielerin werde sich umbringen, das sei Teil des Stücks.
Spontan, tollkühn und präsent inszeniert Natalie Hünig die Vorlage des Autors
In einem der beiden Gläser wartet das Pulver, eingefüllt und umgerührt von einer weiteren Zuschauerin. Er werde gleich die Schauspielerin anweisen, aus einem Glas zu trinken. Vielleicht wird sie den Tod spielen, oder sie stirbt wirklich. Oder sie vertraut denen, die sie auf die Bühne gebracht haben. Eine Stunde lang hat Soleimanpour sein Publikum auf diesen Moment vorbereitet. Wird sie trinken, das Risiko eingehen? Schließlich ist es ihr Job, dem Script zu folgen. Schwer zu ertragen, diese Probe, die er dem Publikum auferlegt. Schließlich durchbrechen zwei Zuschauer die Starre, ergreifen die Gläser und rennen Richtung Toiletten.
Spontan, tollkühn und präsent inszeniert Hünig die Vorlage des Autors. Ihre Stimme wird zu der Soleimanpours. Es entsteht ein tiefes Gefühl für seine Metaphern, für die Vorsicht eines Dramatikers im Spiel mit den Worten, für die Spannung zwischen gefährlichen Befehlen und ausweglos scheinendem Gehorsam.