Es begann im Sensemble-Theater mit einer befremdlichen Nachricht: Die Stadt Augsburg wolle nun, nach 21 Jahren der erfolgreichen Zeitzeugenreihe "Lebenslinien", nicht mehr Mitveranstalterin sein und habe sich aus der Finanzierung zurückgezogen, teilte Theaterchef Sebastian Seidel mit. Passt das in die Landschaft, fragte sich da mancher der zahlreichen Besucher – heute, wo man nach dem Überfall der Hamas allenthalben Antisemitismus ausmacht, wo man Bedrohung durch rechte Geschichtsvergessenheit nicht zuletzt daran erkennt, dass vor dem Sensemble-Theater zwei Polizisten Wache halten? Schließlich weiß man, dass eine so konkrete, reale Familiengeschichte auch aus der zeitlichen Distanz der Nachgeborenen, die bei den Lebenslinien nun von ihren Familien erzählen, besser als jeder Kinofilm oder jedes Geschichtsbuch vermitteln kann, was Antisemitismus und Rassismus an Unheil anrichten können. "Wir machen auf jeden Fall weiter", kündigte Seidel am Sonntagabend seinem Publikum an – unter Applaus.
Thomas Weitzel, der im Referat der Oberbürgermeisterin für die Erinnerungskultur zuständig ist, bestätigte gestern auf Anfrage, dass die Stadt tatsächlich bei dem "Format" der Lebenslinien "aussteigen" und nach neuen Formaten der Erinnerungskultur suchen wolle, vor allem, um junge Menschen zu erreichen. Das sei mit Carmen Reichert vom Jüdischen Museum und Seidel einvernehmlich so besprochen worden.
Fotos und Dokumente als Schenkung an das Jüdische Museum Augsburg
Die Hauptperson der Lebenslinien-Veranstaltung am Sonntagabend, Majda Jones, meldete sich gestern ebenfalls zu Wort: "Das Signal, das die Stadt damit aussendet, ist für mich als Nachfahrin einer Augsburger jüdischen Familie sehr bedauerlich. Ich finde es aktuell wichtiger denn je, an konkreten Biografien die zerstörerische Kraft des Antisemitismus deutlich zu machen." Majda Jones, 80 Jahre alt, in New York geboren und nun in Kalifornien lebend, war nach Augsburg gekommen, um von ihrer Familie zu erzählen, sie hatte Fotos, Dokumente und Erbstücke mitgebracht, die sie dem Jüdischen Museum schenkte.
Die alten Familienfotos aus den 1920er-Jahren sprechen von einer wohlsituierten bürgerlichen Familie. Majdas Großeltern Gustav und Rika Einstein mit ihrem Töchterchen Else (Majdas Mutter) vor ihrem repräsentativen Haus, Faschings- und Sommerfeste, und dann ist da noch die junge Else im Reitkostüm auf ihrem Pferd, eine elegante Dressurreiterin.
Majda Jones erzählt als Nachfahrin von ihrer jüdischen Familie
Das Leben der Familie Einstein war freilich nur scheinbar unbeschwert und sicher. In den 1920er- und den frühen 30er-Jahren wurden Antisemitismus und Ausgrenzungspläne der Nazis immer bedrängender. Doch Gustav Einstein verlässt sich auf sein Ansehen als Unternehmer, auf seine Verdienste als Weltkriegssoldat – so wie viele andere Juden, auch wie die Einstein-Großfamilie in Kriegshaber (mit der nur Namensgleichheit, keine Verwandtschaft besteht). Noch im März 1933, kurz nach der Machtübertragung an Hitler, machen Gustav, Rika und Else Skiurlaub in der Schweiz.
Doch da kommt ein Anruf aus Augsburg – die Gestapo wolle Gustav festnehmen, all sein Besitz sei bereits konfisziert. Die Einsteins bleiben in der Schweiz - mittellos, ohne Perspektive. Das Ehepaar kann nach Flucht-Stationen in Österreich und Frankreich in die USA emigrieren; die Tochter bleibt zunächst in Paris, betreibt ein Gymnastikstudio, wird aber nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen im Lager Gurs interniert. Mit unvorstellbarem Wagemut gelingt es der jungen Frau, zu entkommen und eine Schiffspassage nach Amerika zu ergattern. 1941 kommt sie in New York an. Wie ihre Eltern fängt auch sie wieder bei null an, baut sich eine neue Existenz auf. 1943 wird Majda geboren.
![Majda Jones heute. Majda Jones heute.](https://images.mgpd.de/img/100389237/crop/c1_1-w100/667191270/403694571/fmajda-jonesimg5388.jpg)
Davon erzählten im Sensemble-Theater neben den Fotos auch Briefe und Erinnerungen von Else, die Tinka Kleffner sehr berührend las, begleitet von Dominik Uhrmachers Celloklängen. Davon erzählte im Gespräch mit Monika Müller vom Jüdischen Museum auch Majda Jones. Erstaunlich, wie eng die Familie – auch die Nachgeborenen, Majda und ihr Bruder – mit Deutschland und Bayern verbunden blieb. Gustav Einstein betrieb nach dem Krieg mit großer Energie sein Entschädigungsverfahren und erhielt nach jahrelangen Prozessen tatsächlich seine Brauerei in Unterbaar zurück. Er zog wieder dorthin, lebte dort bis zu seinem Tod, offenbar wieder der angesehene Unternehmer. Es habe keine Bitterkeit über das erlittene Unrecht bei ihrem Großvater gegeben, erzählt Majda Jones, die regelmäßig ihre Ferien in