Die Buchpreis-nominierte Schriftstellerin Ruth-Maria Thomas stimmt eine Melodie an, Moderatorin Tina Lurz springt vom Barhocker, greift nach Thomas‘ Roman, der zwischen den beiden Frauen auf einem kleinen Tisch liegt, und tanzt mit dem Buch in der Hand eine kleine Choreografie. Im Kleinkunsttheater Kresslesmühle ist ein langer Raum mit schwarzen Vorhängen gesäumt. Durch die Reihen der Zuschauerinnen und Zuschauer geht eine Bewegung. Einige erkennen den Tiktok-Tanz-Trend, einige der gut 80 Menschen sind womöglich wegen der tanzenden Moderatorin auf die Lesung aufmerksam geworden. Lurz nämlich tanzte schon einmal mit dem Buch in der Hand – auf Instagram, wo sie einen erfolgreichen Literatur-Kanal betreibt. Den holt sie für eine Lesereihe aus dem Internet in die echte Welt. Die Lesung mit Ruth-Maria Thomas, einer der spannendsten Autorinnen des Jahres, macht Lust auf mehr.
„Die schönste Version“ heißt der Roman, um den sich der Abend in der Kresslesmühle drehte. Und neben dem Video der Augsburger Buch-Bloggerin schaffte er es während der vergangenen Monate in die Kurzvideos und Empfehlungslisten vieler Buch-Menschen auf Instagram und Tiktok. Um den Roman entwickelte sich ein Social-Media-Hype, der sich auch in die etablierte Literaturlandschaft übersetzte: Buchpreis-Longlist, Aspekte-Literaturpreis-Nominierung, Spiegel-Bestseller. Diesen Buch-Herbst kommt man kaum an diesem Roman vorbei.
Der Roman erzählt eine Liebesgeschichte in einer ostdeutschen Kleinstadt der späten Nullerjahre. Thomas beschreibt nach eigener Aussage eine „Beziehung, bei der das Licht gedimmt wird“. Es geht um häusliche Gewalt, um die Tage, nachdem die Gewalt eskalierte. Gar nicht mehr so Tiktok-Tanz, so gar nicht aalglatte Internet-Welt. Lurz und Thomas sprechen auf der Bühne sehr privat über eigene Erfahrungen und die Schicksale der Frauen um sie herum. „Ich werde immer über Themen schreiben, die mich nachts nicht schlafen lassen“, sagt Thomas. „Ich bin Freundin, Schwester, Sozialarbeiterin“, sagt die Cottbuserin. Anhand des Romantextes führen die beiden Frauen ein ausführliches Gespräch über das Körperbild, mit dem sie (und viele der Zuschauerinnen und Zuschauer) aufgewachsen sind.
Eine Bücher-„Community“ für Augsburg
Intim und ungeschönt ist auch der Ton des Buchs. Da klebt das Menstruationsblut in der Unterhose, da rasieren sich zwei Freundinnen gegenseitig den Intimbereich, da überschminkt die junge Protagonistin Wunden und blaue Flecken im Gesicht. Die beiden Frauen fangen die schweren Themen ein. Bei den Lesungen der Reihe „Sunsets and Books“ („Sonnenuntergänge und Bücher“) solle ein Gemeinschaftsgefühl entstehen, sagt Organisatorin Lurz.
Lurz ist seit zehn Jahren Teil der Buchbranche. „Ich habe das Handy in der einen Hand und ein Buch in der anderen“, sagt sie über sich selbst. Sie arbeitet seit fünf Jahren selbstständig als Social-Media-Coach und Moderatorin, gründete eine Marketing-Agentur und verließ sie dann wieder. Ihre Kontakte in die Buchbranche nutzt sie nun, um Augsburg um eine Lesereihe zu erweitern. „Junge, entspannte Kulturveranstaltungen“, sagt Lurz. Die Lesereihe „Sunsets and Books“ überrascht mit großen Namen, unter anderem Lin Hierse und Gabriele von Arnim.
Lurz lud Autorinnen ein, bei denen sie das Gefühl hatte: „Das könnte relevant sein.“ Mit Lesungen an ungewöhnlichen Orten (Gabriele von Arnim liest am 24. Oktober im Kulturzentrum Grandhotel Cosmopolis) oder Lese-Picknicks im Park möchte Lurz ihre Lese-Gemeinde aus dem Internet nach Augsburg zu holen. „Mit den Veranstaltungen ‚Sunsets and Books‘ möchte ich magische, verbindende Momente erschaffen“, sagt Lurz. „So richtige Sonnenuntergangsmomente eben.“
Die nächste Lesung der Reihe ist ein Abend mit Regina Denk am 10. Oktober im Bastelkiosk (mit Live-Musik). Es folgen noch in diesem Jahr Gabriele von Arnim, Sarah Grund und Josi Wismar und Lin Hierse.
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