Im Idealfall ist ein Jazzclub wie Arte ohne Bildschirm – Unterhaltung auf hohem Niveau, Bildungsauftrag inklusive. Am Freitagabend auf dem Lehrplan: instrumentaler Hip Hop und freie Formen, beides nicht denkbar ohne Jazz. Kontrabassist Joseph Warner und Elektromagier Markus Mehr bewegen sich in ihren Soloprojekten in Sparten jenseits von Sparten, doch unter dem Namen V_on machen sie es zu Beginn des Konzerts auch denen leicht, die nicht jeden Morgen John Zorn zum Frühstücksei hören.
Erste atmosphärische Klangteppiche schweben von Mehrs Elektronikspieltisch, ein paar gestrichene, prägnante Bassfiguren entsenden das Publikum in das musikalische Universum des Duos. Es ist ein Universum, dem man sich mit Haut und Haaren hingeben muss, dann verliert man sich in V_ons Musik. Die folgt keinem klassischen Muster, keiner klassischen Struktur, aber wenn sich doch eine kleine Melodie oder ein kurzer Rhythmus herausschälen, ist die Wirkung umso intensiver. Es ist ein wenig wie eine U-Bahnfahrt durch dunkle Schächte, erhellt von angenehm psychedelischem oder schaurig flackerndem Licht, bei der jedes Ankommen in der nächsten Station zum Abenteuer wird. Auf den Bahnsteigen tummeln sich wahlweise Zyklopen und Harlekins, Zentauren und Androiden, Onager und Schwerverbrecher mit orangefarbenen Visagen. Warner lässt Flageoletts in tiefsten Frequenzen folgen, Mehr antwortet mit betörendem Flirren und dumpfem Grollen, zusammen schaffen sie einen 45-minütigen, verrückten Trip, so abwechslungsreich und surreal wie eine Fahrt in der Berliner U8 von der Herrmannstraße bis Wittenau.
Eine musikalisch beunruhigende Szene, die sich da im Jazzclub auftut
Surrealer ist nur noch die post-apokalyptische Geschichte, die Beatproduzent Sebastian Birkl alias DOT auf seinem aktuellen Instrumentalalbum „Tales of Erygow“ erzählt. Es ist ein dystopischer Blick in den Zustand der Welt, die einmal den Zerstörungswahn des Anthropozäns durchleben musste, was sich seit vergangenem Mittwoch noch realer anfühlt als zur Entstehung der Platte vor einem Jahr. Mechanisch ratternde und rhythmisch stolpernde Beats sowie die KI-generierten Szenen einer kaputten Zivilisation, die an die Rückwand der Jazzclubbühne projiziert sind und über das Gesicht von Trompeter Matthias Lindermayr flackern, tun ihr übriges, eine beunruhigende Szenerie mit Händen greifbar zu machen.
Die aus Maschinen entstandenen, doch mit Herz und Seele komponierten Instrumentals erzählen die Geschichte einer Welt, die das Schlimmste schon hinter sich hat, daher gibt es viel Platz für die wohl entscheidendste Emotion unserer Zeit: Hoffnung. Warme Streichersamples erinnern daran, dass es Orte gibt, an denen Menschen zusammenkommen, um die Schönheit der Musik zu erleben, die zarten Töne aus Lindermayrs Trompete und die analogen Gitarrenklänge von dem am Bühnenrand kauernden Gregor Rudat lassen immer wieder durchschimmern, dass es etwas gibt, das stärker ist als Hass und Gewalt: Liebe, Musik und Tanz. Was passiert nun mit der Menschheit? DOT lässt es bewusst offen, aber man versteht, dass ein Instrument besser in einer Hand aufgehoben ist als eine Waffe.
Am Ende herrscht im Jazzclub erstmal Stille
Im Jazzclub könnte man eine Feder auf den Boden fallen hören, so versunken ist das Publikum in Birkls Album, das man unbedingt am Stück hören muss, sei es live oder auf Vinyl. Als die letzten Töne von „The Wanderers“ verklungen sind, herrscht erst einmal Stille. So tief wurde das Publikum in die Welt von DOTs Musik gezogen, dass es erst einmal eine Minute braucht, um wieder daraus aufzutauchen. Der Applaus ist dann aber umso euphorischer.
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