Für einen Moment unterbricht Mithu Sanyal die Lesung. Während sie aus ihrem neuen Roman „Antichristie“ liest, können sich zahlreiche Zuhörerinnen und Zuhörer das Kichern nicht verkneifen, so unterhaltsam ist die Erzählung. „Ihr seid ein super Publikum“, sagt Sanyal dankbar. Die Stimmung bei AZ-Literaturabend in der Stadtbücherei in Augsburg ist ausgelassen, das liegt vor allem an der Schriftstellerin. Schon vor der ersten Lesung weckt Sanyal jeden auf, der vielleicht nicht ganz wach war. Im Gespräch mit AZ-Kultur und Journalredakteurin Felicitas Lachmayr erzählt sie eindrücklich von ihrem Ziel, aus Sätzen Leben zu erschaffen. Die Autorin und Kulturwissenschaftlerin spricht schnell, lässt das Publikum an ihren Gedanken teilhaben und nimmt sich dabei selbst nicht zu ernst. Das zeichnet auch ihre Bücher aus.
Mit „Antichristie“ legt die Düsseldorfer Autorin nach ihrem Debüt „Identitti“ ihren zweiten Roman innerhalb von drei Jahren vor. Das Buch findet sich auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 wieder. Die Handlung dreht sich um eine Frau namens Durga. Durga ist internationale Drehbuchautorin, Tochter eines Inders und einer Deutschen und mit einem Schotten verheiratet. Im Jahr 2022 soll sie an einer Verfilmung der Agatha-Christie-Krimis mitarbeiten und erlebt den Tod der Queen in London hautnah. Doch auf einmal ist es 1906, und sie trifft indische Revolutionäre, die keineswegs gewaltfrei wie Gandhi kämpfen.
Mithu Sanyal liest mit schottischem Dialekt aus „Antichristie“
Als Sanyal aus ihrem Werk liest, bemüht sie sich und spricht dem Schotten kurzum im Dialekt. „Für mich ist wichtig, dass die Geschichte lebendig wird“, sagt die Schriftstellerin und verrät, dass ein literarisches Vorbild von ihr die britische Kinderbuchautorin Enid Blyton sei. Blyton verfasste über 700 Bücher. Der Erzählstil sei nah am Oralen, das versucht auch Sanyal. Die Dialoge für ihre Bücher fallen ihr oft beim Autofahren ein, erzählt sie und erklärt weiter, dass sie dann anhalte und ihre Gedanken als Sprachnachrichten aufnehme. Außerdem lese sie jedes fertige Kapitel ihrem Partner vor, um zu schauen, wo es hakt.
Unterhaltsam, ohne Übertreibungen oder Polemik setzt sich die Autorin in ihren Büchern mit gegenwärtigen Debatten auseinander. Genauso ist die Düsseldorferin auch im Gespräch. Trotz eigener postmigrantischer Erfahrungen wirkt sie nicht wütend oder verbittert. „Ich bin immer unglaublich positiv“, sagt sie selbst. Gerade denke sie aber mit Blick auf das Weltgeschehen, jeder brauche einen persönlichen Psychologen.
Bücher umschreiben? Sanyal bevorzugt Fußnoten
Auf die Frage von Lachmayr, ob Bücher mit rassistischen Wörtern oder Aussagen wie beispielsweise Agatha Christies Werke überarbeitet oder umgeschrieben werden sollten, antwortet Sanyal differenziert und diplomatisch. Handelt es sich in einer Übersetzung eines Wortes, ist es laut der Schriftstellerin kein großes Problem, ein anderes Wort zu finden. Oft geht es aber um mehr. Dann ist Sanyal ein Fan von Fußnoten. Fußnoten aller Art empfinde sie als super. „Irgendwann werde ich einen Roman mit Fußnoten schreiben“, sagt sie mit Blick in die Zukunft und kündigt damit weitere Werke von ihr an. Ob es wieder nur drei Jahre bis zur nächsten Veröffentlichung von ihr dauern wird, ist bisher nicht klar. Nach einem Abend mit ihr, traut man es Mithu Sanyal auf jeden Fall zu, so klar und rasch ist sie im Denken, dass das Schreiben nicht lange dauern kann.
Nach dem Gespräch mit Mithu Sanyal gibt AZ-Kulturredakteurin Birgit Müller-Bardorff Lesetipps aus der Sparte Kinder- und Jugendbuch. Aus dem diesjährigen Gastland Italien kommt eine richtige Abenteuer-Geschichte. Das Buch von Davide Morosinotto spiele zur Zeit des Hunnenkrieges in Norditalien und eigne sich für Kinder ab 10 Jahren, sagt die Kinder- und Jugendbuch-Expertin. Für die Kleineren empfiehlt Müller-Bardorff das Buch „Meine Mama ist ein Kunstwerk“ von Hana Acababo. Und Torben Kuhlmann bringt seine Mäuseabenteuer zurück. Nach Erkundungstouren mit Armstrong und Einstein ist die Wühlmaus in dem neuen Kinderbuch mit Pilotin Amelia Earhart unterwegs.
Uneinigkeit über Nina Bossongs „Reichskanzlerplatz“
Zum Abschluss des Abends debattiert der Literarische Salon über die Neuerscheinungen des Herbstes. Mit dabei: Kurt Idrizovic von der Augsburger Buchhandlung am Obstmarkt, Richard Mayr und Stefanie Wirsching (Moderation), die gemeinsam die Redaktion Kultur und Journal der Augsburger Allgemeinen leiten, sowie AZ-Kulturredakteurin Veronika Lintner. Voller Begeisterung stellt Kurt Idrizovic ein dünnes Buch von Carys Davis „Ein klarer Tag“ vor. Es ist die Geschichte zweier Männer. Der eine lebt im Jahr 1843 auf einer schottischen Insel. Der andere, ein Pfarrer, versucht, ihn von dort wegzuholen. Für Idrizovic war das Buch „eine der größten Entdeckungen des Jahres“. Lintner findet vieles Bemerkenswertes an dem Buch, aber das Ganze fast zu zart. Auch Richard Mayr findet positive Worte, zur gleichen Begeisterung kann er sich aber nicht durchringen.
Einig ist das Trio bei „Mein drittes Leben“ von Daniela Krien. Es geht um eine Frau, die nach dem Tod ihrer Tochter und einer Krebsdiagnose voller Trauer in die sächsische Provinz zieht. Es sei kein typisches Trauerbuch, sagt Mayr. Das Buch kann aber Trost spenden, wenn jemand in so einer Phase ist, führt er weiter aus. Idrizovic findet, Krien fehle auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Das Buch befinde sich sprachlich auf höchstem Niveau, bekräftigt Mayr.
Beim letzten Buch herrscht Uneinigkeit. Es geht um „Reichskanzlerplatz“ von Nora Bossong. Bis auf Mayr kann niemand in der Runde etwas mit dem Roman anfangen. Es geht um einen Mann, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Berlin lebt, gleichzeitig ist es ein Porträt von Magda Goebbels. Kurt Idrizovic versteht nicht, was die Autorin von ihm will. „Ich habe keine Lust, den Roman selbst in meinem Kopf herzustellen“, sagt der Augsburger Buchhändler unbeeindruckt. Mayr scheint das nichts auszumachen. Er beschreibt die Menschen in der Geschichte als „sehr nah, sehr gegenwärtig“. Reichskanzlerplatz sei kein historischer Roman, sondern ein Blick von unserer Zeit in die Vergangenheit.
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