Mit der nationalsozialistischen „Machtübernahme“ verlor der früh ins Exil gedrängte Brecht die Grundlagen seiner Kunst. Er war abgeschnitten von den Bereichen, die er brauchte, um als Theaterautor wirken zu können: von Verlagen, großen Bühnen und deren Publikum.
Sein Unbehagen war groß, dennoch: Brecht betrachtete nun den Kommunismus, konkretisiert im Staat der Sowjetunion, als Bollwerk gegen den nationalsozialistischen Barbarismus. Er wollte als Schriftsteller am antifaschistischen Kampf teilnehmen, mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung standen. So begann er im Spätsommer 1933, eine Sammlung von – teilweise schon älterer – Lyrik zusammenzustellen, die nun als Kampflieder dienen, also praktisch anwendbar sein sollten. Brecht nahm Änderungen vor, stellte die ursprüngliche Aussageabsicht auf den Kopf, um Texte der neuen Situation anzupassen. Hatte er einst mit der berühmten "Legende vom toten Soldaten" mit dem Hinweis auf einen „fünften Kriegslenz“, also das Frühjahr 1919, deutlich gemacht, dass die kommunistische Räterevolution nichts anderes sei als die Fortführung des barbarischen Ersten Weltkriegs, so machte er aus diesem fünften Lenz nun flugs einen vierten. Damit weist er auf das letzte Kriegsjahr hin, auf die wilhelminische Kriegspolitik. Die einstige kritische Sichtweise der kommunistischen Revolution fiel unter den Tisch.
Viele der Gedichte Brechts haben einen doppelten Boden
"Lieder, Gedichte, Chöre" war der Titel der Sammlung, mit Vertonungen von Hanns Eisler. Der berühmtere Kurt Weill kam dafür nicht infrage. Brechts Arbeitsbeziehung zu ihm hatte sich nach den Erfolgen mit der "Dreigroschenoper" und "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" abgekühlt; außerdem war Weill zwar Jude und deshalb gleichfalls im Exil, aber im Gegensatz zum Marxisten Eisler völlig unpolitisch.
Viele der Gedichte der Sammlung haben einen doppelten Boden. Sie geben vor, für den Kommunismus Propaganda zu machen, dokumentieren aber gleichzeitig Brechts Distanz dieser Ideologie gegenüber. So schreibt er über die kommunistische Partei: „In deinem Anzug steckt sie, Genosse, und denkt in deinem Kopf.“ Könnte es eine erschreckendere Vorstellung, eine, wäre dies ernst gemeint, schlimmere Bankrotterklärung des freien Individuums, als das sich Brecht selbst immer verstand, geben?
Vor dem Hintergrund dieser Ambivalenz ist auch die im Frühjahr 1934 entstandene "Ballade vom Wasserrad" zu betrachten.
Von den Großen dieser Erde
Melden uns die Heldenlieder:
Steigend auf so wie Gestirne
Gehen sie wie Gestirne nieder.
Das klingt tröstlich und man muß es wissen.
Nur: für uns, die wir uns nähren müssen
Ist das leider immer ziemlich gleich gewesen.
Aufstieg oder Fall: wer trägt die Spesen?
Freilich dreht das Rad sich immer weiter
Daß, was oben ist, nicht oben bleibt.
Aber für das Wasser unten heißt das leider
Nur: daß es das Rad für ewig treibt.
Ach wir hatten viele Herren
Hatten Tiger und Hyänen
Hatten Adler, hatten Schweine
Doch wir nährten den und jenen.
Ob sie besser waren oder schlimmer:
Ach, der Stiefel glich dem Stiefel immer
Und uns trat er. Ihr versteht: ich meine
Daß wir keine anderen Herren brauchen, sondern keine!
Freilich dreht das Rad sich immer weiter
Daß, was oben ist, nicht oben bleibt.
Aber für das Wasser unten heißt das leider
Nur: daß es das Rad für ewig treibt.
Und sie schlagen sich die Köpfe
Blutig, raufend um die Beute.
Nennen einander gierige Tröpfe
Und sich selber gute Leute.
Unaufhörlich sehen wir sie einander grollen
Und bekämpfen. Einzig und alleinig
Wenn wir sie nicht mehr ernähren wollen
Sind sie sich auf einmal völlig einig.
Freilich dreht das Rad sich immer weiter
Daß, was oben ist, nicht oben bleibt.
Aber für das Wasser unten heißt das leider
Nur: daß es das Rad für ewig treibt.
(aus: Bertolt Brecht, Werke., GBA 14. © Bertolt-Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag)
Das lyrische Wir solidarisiert sich mit den Ausgebeuteten, es gehört zu ihnen. Formelhaft scheint Klassenkampf betrieben zu werden, wenn die Rede ist von Herren und Knechten, vom Getretenwerden der Niederen, die die Höheren ernähren. Eine Dichotomie von Oben und Unten prägt das Gedicht, wie es typisch ist für Arbeiter- bzw. Klassenkampflieder. Der Refrain macht deutlich: die gesellschaftlichen Verhältnisse bleiben nicht so. Einst wird das Untere zum Oberen werden und umgekehrt.
Mehr Schopenhauer und Nietzsche als Hegel und Marx
Der Refrain scheint diese Forderungen voranbringen, ihnen Dynamik verleihen zu wollen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Anders als bei anderen Refrains der Lyrik Brechts, die in der Wiederholung häufig variiert werden, ist der Refrain der "Ballade vom Wasserrad" immer genau gleich. Die Funktion ist klar: Es handelt sich gerade nicht um eine Bestätigung, Konsolidierung der einzelnen Strophen, sondern um einen immer gleich und gültig bleibenden Widerspruch. Zwei Geschichtsbilder nämlich treffen aufeinander: ein lineares, in der Tradition Kants, Hegels und Marx stehendes, das von einer steten Entwicklung des Menschen zum Besseren ausgeht; und ein in der Unerbittlichkeit des Refrains deutlich werdendes zyklisches Modell nach Schopenhauer, Nietzsche, aber auch Büchner. Dieses erweist die klassenkämpferischen Parolen der einzelnen Strophen als illusorisch. Die Geschichte dreht sich im Kreise, mögen auch die Herren fallen. Das Rad wird andere und, wie auch der Sowjetstaat zeigte, gleichfalls schlimme nach oben bringen. Auch diese werden wieder versinken und Platz für abermals andere machen in der, mit Nietzsche zu sprechen, „ewigen Wiederkunft alles Gleichen.“ Der Germanist Albrecht Schöne erkannte bereits 1958, dass das Bild des sich ewig drehenden Glücksrads, das Basis der Ballade ist, jegliche revolutionäre Dynamik ad absurdum führt. Geschichte ist nicht plan- und veränderbar, sondern sie unterliegt festen Gesetzmäßigkeiten.
Das wusste bereits der junge Brecht, dessen Werk eine Fülle von Variationen dieses „ewigen Kreislaufs“ präsentiert; zum Beispiel mit dem monoton leiernden Orchestrion in "Trommeln in der Nacht", der Drehorgel in der "Dreigroschenoper", dem Glücksrad, das ein wichtiges Motiv auch im Drama "Leben Eduards des Zweiten von England" ist, und, noch später, mit der Drehbühne, die „Mutter Courage“ im Dreißigjährigen Krieg nicht zu verlassen vermag.
Im kommunistischen Sinn wurde Hand an Brechts Werk gelegt
Als Brecht sich dann für ein Leben in der DDR entschieden hatte, blieb ihm nichts anderes übrig als diesen Geschichtsfatalismus durch eine Bearbeitung zu durchbrechen, wollte er nicht allzu sehr anecken. Plötzlich drehte sich das Rad nicht mehr ewig – schon gar nicht mehr in einer von Brecht nicht autorisierten Variante, die Eisler 1956, im Todesjahr Brechts – der Dichter starb am 14. August -, zur Grundlage einer Neuvertonung der Ballade machte: Nicht das einzige Beispiel, dass Werke Brechts posthum in kommunistischem Sinn korrigiert wurden. Ob ihn das selbst wohl sehr empört hatte, angesichts der eigenen, ähnlichen „Flexibilität“ seiner Dichtung gegenüber?