Die Mauern und Menschen in Edgars Leben atmen in den 60er-Jahren noch den Geist von Zucht und Ordnung, von Judenverachtung und nationalsozialistischen Gesprächsschnipseln. Er ist zwölf, Sohn eines Oberstaatsanwalts und Gefängnisdirektors in Herford. Der "Zusammenbruch" des Deutschen Reiches ist noch präsent, die Eltern trauern der früheren Ordnung und der verlorenen Identität als Teil der nationalsozialistischen Bürgerlichkeit nach. Sie wissen noch, was das ist, Volk, Identität.
Mit "Hast du uns endlich gefunden" betrat der Schauspieler Edgar Selge, TV-bekannt als kauziger Kommissar Tauber im Münchner "Polizeiruf 110", erstmals die literarische Bühne. Das autofiktionale Buch wurde ein Longseller und brachte es innerhalb der letzten zwei Jahre auf über 250.000 verkaufte Exemplare. Jetzt las er auf Einladung von Bayern 2 und in Kooperation mit Buchhändler Kurt Idrizovic im ausverkauften Textil- und Industriemuseum. Eine launige, lockere, aber auch berührende Lesung, unterbrochen von Zwiegesprächen mit Moderator Knut Cordsen über die Hintergründe seines Erstlingswerks.
Die Gefangenen arbeiten für den Direktor
Die Gefängnisinsassen, jugendliche Schwerverbrecher, sprechen Edgar auf dem Weg in die Felder an. Dort ernten sie das Obst, das im Haus des Gefängnisdirektors gegessen wird. Auch die Schränke aus Birkenholz, die sie in der Gefangenen-Werkstatt fertigen, stehen im Haus des Direktors. Manche, vor allem die Neuzugänge, erzählen dem kleinen Edgar von ihren Straftaten und dass sie "bald" rauskämen. Dieses "bald", so liest, nein, performt Edgar Selge, unterlegten sie mit einer besonderen Zärtlichkeit. "Warm" klinge das, mit viel Hoffnung.
Unter den Gefangenen war mal einer, so erzählt der Vater dem Sohn, der hatte sieben Jahre Zuchthaus bekommen wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". 1948 war er verurteilt worden. Der kleine Edgar sinniert, was mit "Menschlichkeit" gemeint sein könnte. Es musste etwas Großes sein. Der Mann hatte 15 politische Gefangene in sein Gefängnis verlegt, um sie zu verhören, zu foltern. Auf der Sportbahn mussten sie so lange laufen, bis sie zusammenbrachen. Der ist jetzt wieder frei. Vielleicht habe ich ihn schon mal gesehen, denkt Edgar und sucht in den Gesichtern der Gefangenen nach den Spuren ihrer Straftaten. "Kriminelle Energie", denkt er, das muss man doch sehen.
Der Vater rügt im Ton eines Staatsanwalts
Wenn der große Schauspieler Selge liest, erleben die Zuhörer die Welt des Zwölfjährigen durch die Augen des Heranwachsenden. Dass er im Präsens schreibt, erleichtert zudem die Vorstellung - vom endlosen Korridor des Direktorenhauses, von den Gerüchen, die von der Schokoladenfabrik herüberwabern. Edgar hasst die Schokolade von "Karina", sie zergeht nicht auf der Zunge, man bringt sie nicht runter. Aber die Gerüche, die liebt er, und inhaliert die Schokolade, statt sie zu essen.
Eine Episode erzählt von der Beerdigung eines väterlichen Freundes. Edgar steht neben seinem Vater am Grab. Der Pfarrer verbetet sich, spricht vor der Trauerrunde statt des Vaterunsers das Tischgebet "Komm Herr Jesus, sei du unser Gast". Edgar spürt neben sich, wie es in seinem Vater innerlich gluckst, bald wehren sich beide gegen einen unbändigen Lachkrampf. Am Rand des Friedhofes dann der Schlag: Der Vater beschuldigt ihn, gelacht zu haben, weist ihn im "Staatsanwaltston" zurecht. Er habe angefangen zu lachen, und wie das denn aussehe, schimpft er. Solche Verletzungen des Vaters gibt es viele. Edgar ist nicht wehleidig. Er ist widerständig, nachdenklich und trotzig, eine Mischung aus Opfer sein, Schmerz empfangen und austeilen.
"Die Eltern hätten es nicht verstanden", sagt Selge
Im Publikumsgespräch antwortet Selge offen auf sehr persönliche Fragen. Und wie es bei einem guten Erzähler so ist, gehen die Antworten immer weit über die Ich-Bezogenheit hinaus. "Ich suche mein eigenes Narrativ. Wenn man sich genau erinnert und Worte findet, die man noch nie gefunden hat, verliert man sich selbst ein Stück." Das Buch ist eine Liebeserklärung an die Eltern, sagt er und liest auf die Frage nach der Vater-Sohn-Beziehung noch einen Satz aus dem Buch. Das ist ihm wichtig, es dauert etwas, bis er ihn gefunden hat: "Es ist die Liebe zu meinem Vater. Ich will nicht zugeben, dass ich einen liebe, der mich schlägt." Schreiben konnte er all das erst, als seine Eltern tot waren. "Sie hätten es nicht verstanden, dass dies keine Anklage, sondern eine Liebeserklärung ist."