Das Leben besteht in steter Veränderung – sichtbar in der Gesellschaft, auch in einer Stadt. Diesen Gedanken der Transformation künstlerisch umgesetzt hat Stefanie Kraut mit ihrer Installation für die Kirche St. Moritz unter dem Titel „Wenn die Sonne tief steht“.
Die hinteren Kirchenbänke in der Moritzkirche sind entfernt. Stattdessen liegen dort, ineinander und übereinander geschichtet, große rote Platten aus Blech, darauf in Weiß geschriebene Satzbruchstücke wie „nächste Nacht irgendwer“ oder „die Stadt gehört jedem“. Diese roten Teile stammen von der Fassade der ehemaligen Brechtbühne, die der Künstlerin zur Verfügung gestellt wurden, für Stefanie Kraut ein Beispiel für einen baulichen Umbruch in einer Stadt, für das „Zerbrochene“. Mit dieser Installation nimmt die Künstlerin den Gedanken auf, dass durch städtebauliche Umbrüche Orte verloren gehen, die bisher Halt gegeben haben. Plötzlich sind sie weg – wie eben der rote stilisierte Theatervorhang an der Fassade der Brechtbühne. Oder wie wettergeschützte Nischen unter einer Brücke nahe des Plärrers, die vergittert wurden, um Obdachlose fernzuhalten.
Stefanie Kraut macht sich für „Stent“ in Augsburg auf die Suche
Teil der Installation sind auch zwei Bildschirme, auf denen solche Orte zu sehen sind – die vergitterten Nischen unter der Brücke, leerstehende Gebäude, Brachflächen, Ruinen, anonyme Baustellen. 34 solcher Orte hat Stefanie Kraut aufgesucht und gefilmt, in all ihrer Alltäglichkeit. Da fährt die Straßenbahn vorbei, oder es sind von Ferne Passanten zu sehen. Auffallend aber sind Schriftbänder, die durch jede dieser Einstellungen laufen. Es sind Auszüge aus Gesprächen, die Stefanie Kaut mit jungen Obdachlosen in Augsburg geführt hat. Vermittelt hat ihr den Kontakt Oliver Munding, Vorsitzender des Vereins JCube, der sich für obdach- und wohnungslose junge Menschen in Augsburg einsetzt. Das Kunstprojekt ist im „Tandem“ zwischen der Künstlerin und dem Netzwerk-Partner JCube entstanden.
Diese Partnerschaft ist eine Grundidee des Rahmenprojekts „Stent“ der Moritzkirche, unter dessen Dach eine ganze Reihe von größeren und kleineren Kunstprojekten schon seit Wochen und noch bis Anfang August laufen. Räume sollen geweitet werden, aus dem sakralen Raum hinaus in die Gesellschaft – und auch umgekehrt, wie bei dieser Installation von Stefanie Kraut, in den sakralen Raum hinein. Michael Grau, Kunstreferent an der Moritzkirche, spricht die Widerständigkeit an, die so ein Kunstprojekt gewollt in diesem „extrem starken, extrem puristischen, durchgestalteten Kirchenraum“ hervorrufen könne. Hier werde das Scheitern einer Gesellschaft sichtbar. Grau: „Ich hoffe schon, dass das berührt.“
Wie viele junge Menschen sind wohnungs- oder obdachlos?
Um die Laufschriften auf den Videos zu lesen und auf sich wirken zu lassen, braucht es Zeit. Was sind das für Aussagen? Vor dem ehemaligen Woolworth in der Annastraße steht auf dem Schriftband: „Da war’n überdachter Teil vorm Eingang im Laden. Da haben wir uns auch untertags aufgehalten, uns da reingesetzt. Wettergeschützt. Ich mein, da war immer Schatten. Da hat’s nie reingeregnet, nie reingeschneit.“ Oder: „Ich muss ja eh nirgendwo sein, ich muss nirgendwo hinkommen. Deshalb sage immer gerne so: Wo wohnst du? Überall und nirgendwo.“ Oder: „Eine eigene Wohnung liegt noch weit weg. Vielleicht irgendwann.“
Eine Leben im Überall und Nirgendwo – das erlebt Oliver Munding in seiner Arbeit und in seinem Engagement als Realität. Seiner Schätzung nach sind 500 bis 1000 junge Menschen zwischen 18 und 27 Jahren in Augsburg obdach- oder wohnungslos, die meisten davon seien diejenigen, die keine eigene Bleibe haben, sondern zeitweise bei Verwandten oder Freunden wohnen. „Wollen wir sie sehen?“, fragt Munding. „Diese jungen Menschen haben keine Stabilität, keine Perspektive, ihre Lebensplanung sei zerstört. Gleichzeitig, so Munding, wisse er von 240 Objekten in Augsburg, die derzeit leer stehen. Der Verein setzt sich dafür ein, um für diese jungen Menschen Wohnraum zu finden. Damit sie, „wenn die Sonne tief steht“, eine Bleibe haben.
Info: Die Installation ist noch bis 8. August in der Moritzkirche zu sehen.
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