Wer gute Geschichten erzählen möchte, der muss vor allem eines können: gut zuhören. Die meisten erzählenswerten Geschichten liegen auf der Straße und kommen von Menschen, die zwar von allen gesehen, aber von fast niemandem beachtet werden.
Der vor ziemlich genau 30 Jahren in Bamberg geborene Singer-Songwriter Raphael Kestler nimmt sich die Zeit, den Worten des obdachlosen Mannes zu lauschen, dem aus seinem vergangenen Leben nur noch die nutzlos gewordene Doktorurkunde in seiner Tasche bleibt. Er schenkt den Freunden Aufmerksamkeit, deren Familien nach jahrelangem Zusammenhalt durch plötzlich querdenkende Eltern erschüttert werden. All diese Geschichten verpackt Kestler so authentisch in kleine, akustische Songperlen, dass man sich schnell bei dem Gedanken erwischen kann, man lese in seinem Tagebuch.
Raphael Kestler feiert sein neues Album im Café Tür an Tür
„Es ist seltsam, dass alle immer denken, meine Texte seien automatisch autobiografisch. Einen Schriftsteller fragt ja auch niemand, ob er das wirklich so mit Harry Potter und Hermine erlebt habe“, erzählt er auf der Bühne des Cafés Tür an Tür. Dort stellt er sein drittes, am vergangenen Freitag erschienenes Album „Innen und Außen“ (Selma Records) vor. Es enthält elf Songs, elf scheinbar kleine, triviale Szenen des Lebens, die für diejenigen, die ein Teil davon waren, so einprägsam waren, dass sie irgendwann zu Liedern werden mussten. Zu Liedern, in denen sich viele auf ihre eigene Art und Weise wiederfinden.
In dem rappelvollen ehemaligen Straßenbahndepot am Senkelbach spielt er die Stücke des Albums zum ersten Mal in voller Bandbesetzung. Das erinnert einmal an Paris und die alten, kettenrauchenden Chansonniers, mal an das Hamburg der Jahrtausendwende samt seiner seitengescheitelten Indie-Helden. Die volle Bandbesetzung und die abwechslungsreiche Instrumentierung stehen den Stücken gut zu Gesicht, auch wenn man bei dem etwas zu offensichtlichen Kunstlied „Bäume“ nicht zuletzt wegen der mehrstimmigen Arrangements und der klagenden Geige einfach nicht das Bild aus dem Kopf bekommt, wie eine in Batikkleider gewandete Gruppe Esoteriker im Ringelreihen durch den Wald tanzt.
Songwriter Raphael Kestler hätte einen Sympathie-Oscar verdient
Dann doch lieber Kestlers angenehme Tenorstimme als Erzählerin der großen Momente der Liebe: Das Erlebnis, wenn man das Herz eines plötzlich in seine Welt gekommenen Menschen im gleichen Takt wie das eigene schlagen hört, war schon immer eine sichere Bank für große Songs. Und die Frage, wie es weitergehen soll, wenn die Verliebtheit dem Gedanken Platz macht, ob man vielleicht das ganze Leben zusammen verbringen soll, sowieso.
Man merkt, dass die Band aus Freundinnen und Freunden zusammengestellt wurde, Kestler wirkt gelöst und glücklich. Ganz zu schweigen davon, dass er, gäbe es einen Oscar für Sympathie, diesen mehr als verdient hätte.
Max Pongratz eröffnet Kestlers Konzert in Augsburg
Den Abend der Album-Präsentation eröffnete übrigens Maxi Pongratz. Der Oberland-Anarchist, bekannt als Teil der im Moment pausierenden Oberammergauer Brass-Band Kofelgschroa, berichtet mit seiner Ziehharmonika auf launige Art und Weise von ätzend langweiligen Arbeitstagen, der täglichen Unentschlossenheit bei Essenswahl und Freizeitgestaltung und der ewigen Suche nach wichtigen Dokumenten, die man ganz bestimmt an einem idiotensicheren Ort abgelegt hat. Nur eben nicht mehr weiß, wo dieser idiotensichere Ort nun noch einmal genau war. Wenn man auch noch einen Künstler dieses Formats als Support gewinnen kann, hat man für sein Release-Konzert wirklich alles richtig gemacht.