Die Studenten der Ethnologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität im Berlin des Jahres 1896 sind voller Aufregung. Professor von Waldstätten (Peter Simonischek) hat jedem von ihnen ein eigenes „Exemplar“ versprochen. Bisher haben die Kommilitonen nur Totenschädel untersucht. Aber jetzt ist zur „Völkerausstellung“ im Treptower Park eine Delegation von Herero und Nama aus der Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“ angereist, die von den angehenden Wissenschaftlern genau vermessen werden sollen. Schädeldurchmesser, Nasenbreite, Anzahl der Zähne, Hautfarbenabgleich – die Zahlen werden sorgfältig in Tabellen eingetragen und sollen den „evolutionären Vorsprung“ der weißen Europäer vor den afrikanischen Völkern belegen.
"Der vermessene Mensch": Der Doktorand hat anfangs noch Zweifel
Der Doktorand Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) hegt gewisse Zweifel an der herrschenden Lehrmeinung. Und die Dolmetscherin Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama), die sich mit Tränen im Gesicht der entwürdigenden Vermessung unterzieht, wird diese Zweifel bestärken. Denn die ehemalige Missions-Schülerin ist intellektuell gebildet, kennt sich mit Literatur, Mathematik und Philosophie aus und flüchtet sich zuweilen – zur Verzückung des jungen Wissenschaftlers – sogar ins Reich der Fantasie.
In seiner Antrittsvorlesung versucht Hoffmann, das Auditorium vergeblich davon zu überzeugen, dass der jungen Herero-Frau ein höherer Bildungsgrad nur durch äußere Umstände und nicht durch genetische Veranlagung versagt blieb. Freundlich, aber distanziert verhält sich Kezia gegenüber dem Deutschen, der sie mit zunehmend verklärtem Blick betrachtet. Eigentlich ist die Delegation nach Berlin gekommen, um in einer Audienz beim Kaiser für eine friedliche Lösung der zunehmenden Spannungen zwischen den Herero und der deutschen Kolonialmacht einzutreten. „Der Kaiser empfängt die Wilden“ steht am anderen Tag in der Zeitung und nach dem Scheitern der Verhandlungen reist die afrikanische Delegation überstürzt ab.
Wenige Jahre später bekommt Hoffmann die Chance, selbst in die Kolonie zu reisen. Nach einem Aufstand hat die kaiserliche Armee einen blutigen Krieg gegen die Herero begonnen. Der Ethnologe soll für die Universität „materielle Zeugnisse“ der einheimischen Kultur einsammeln, bevor diese durch die Kolonialmacht zerstört wird. Dazu gehören nicht nur Artefakte, sondern vor allem auch Schädel der ermordeten Afrikaner, nach denen an den deutschen Universitäten eine große Nachfrage besteht. Und natürlich hofft der junge Wissenschaftler auch darauf Kezia wiederzusehen. Aber schon bald wird Hoffmann immer tiefer hineingezogen in den unbarmherzigen Vernichtungsfeldzuges gegen die Herero.
Lars Kraumes "Der vermessene Mensch" ist ein Täterfilm
Wenn es um die Aufarbeitung der Kolonialzeit geht, hat man sich hierzulande etwas bedeckt gehalten. Daran will Lars Kraume nun mit „Der vermessene Mensch“ etwas ändern. Er hat seinen Film konsequent als Täterfilm angelegt, indem er einen idealistischen Ethnologen als Hauptfigur wählt, der vom rassistischen System des Genozids zunehmend korrumpiert wird. Wie schon in „Der Staat gegen Fritz Bauer“ oder „Das schweigende Klassenzimmer“ untersucht Kraume auch hier erneut sehr differenziert die fließenden Grenzen zwischen Opportunismus und Mittäterschaft. „Der vermessene Mensch“ zeigt die Verbrechen der kaiserlichen Armee nicht in großen Schlachtgemälden, denen immer auch der Geschmack des Gewalt-Voyeurismus anhängt.
Umso eindringlicher macht der Film in einzelnen Szenen klar, mit welcher rassistischen Menschenverachtung hier der Völkermord vorangetrieben wurde. Frauen, Alte und Kinder werden in die Wüste getrieben und müssen verdursten, weil deutsche Truppen alle Wasserlöcher besetzt halten. Wer überlebt, wird in Konzentrationslager verschleppt, die auch damals schon so hießen. Gleichzeitig verweist Kraume auf die Rolle der Ethnologie, die mit pseudowissenschaftlichen Methoden und wider besseres Wissen an der Legitimierung imperialistischer Politik mitwirkte und gleichzeitig den Grundstein für die sogenannte Rassenlehre des Nationalsozialismus legte.
Eindrucksvoll sind die Auftritte der namibischen Schauspielerin Girley Charlene Jazama
All dies transportiert der Film vollkommen schlüssig in der Figur des jungen Ethnologen Hoffmann, der folgerichtig eine Anti-Katharsis hin zum bedingungslosen Opportunisten durchläuft. Das Konzept des offensiven Schuldbekenntnisses bringt es mit sich, dass der Film nur partiell den Blick der Herero einnehmen kann. Umso eindrücklicher sind die Auftritte der namibischen Schauspielerin Girley Charlene Jazama, die auch als Drehbuchberaterin mitgewirkt hat und ihrer Figur charismatische Würde verleiht. Glücklicherweise widersteht der Film dem Klischee, eine romantische Beziehung zwischen dem deutschen Ethnologen und der Herero-Frau zu implantieren. Ganz im Gegenteil wird im Finale mit dem Mythos des „White Savior“ gründlich aufgeräumt. Der vermeintliche, weiße Retter entpuppt sich als das, was er meistens ist, wenn es drauf ankommt: ein Feigling.