Ihre künftigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird Carmen Reichert kommende Woche das erste Mal kennenlernen – in einer Videokonferenz. Ihre neue Stelle als Leiterin des Jüdischen Museums Augsburg-Schwaben tritt sie dann im Mai 2022 an. Damit hat der Stiftungsrat des Museums schnell eine Nachfolgerin für Barbara Staudinger gefunden, die kommendes Jahr das Haus in Richtung Wien verlässt. Mitte September wurde bekannt, dass Staudinger dort die Leitung des Jüdischen Museums übernimmt.
Ein wenig mag die Wahl von Reichert auf den ersten Blick überraschen. Sie kommt jetzt nicht als Kuratorin oder Leiterin eines kleineren Museums. Auf den zweiten Blick kann man allerdings verstehen, warum Reichert eingestellt wird. Reichert ist schon während ihres Studiums der Romanistik, Germanistik und Jüdischen Geschichte zweigleisig gefahren und hat parallel als Journalistin gearbeitet, für unsere Redaktion, aber auch für das dpa-Landesbüro in München, diverse jüdische Medien und die TAZ. Reichert hat sich als Wissenschaftlerin mit dem Jiddischen auseinandergesetzt und da schon Bücher publiziert. Sie arbeitet als Dozentin für Jiddisch am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur der Ludwig-Maximilians-Universität München. Gleichzeitig ist sie Referentin bei der europäischen Janusz-Korczak-Akademie in München und erarbeitet dort interaktive Ausstellungsprojekte. Hier ist sie Wissenschaftlerin, dort an Museumsarbeit interessiert und die Vermittlung von Stoffen und Themen ist ihr auch als Journalistin vertraut. Sie bringt also ein breites Portfolio mit.
Als Zwölfjährige sprach Reichert mit dem Holocaust-Überlebenden Mietek Pemper
Zu ihrem großen Lebensthema der jüdischen Kultur ist Reichert, die selbst nicht jüdischen Glaubens ist, durch ein Interview als Schülerreporterin gekommen, wie sie erzählt. Gemeinsam mit einer Gruppe weiterer Schüler und Schülerinnen sprach sie als zwölfjährige mit dem Holocaust-Überlebenden Mietek Pemper. An dieses Gespräch, das fast 25 Jahre zurückliegt, hat Reichert noch lebhaft erinnern. „Ich erinnere mich noch an Details, es war unglaublich beeindruckend“, sagt sie. Von ihren Großeltern hatte sie damals schon erfahren gehabt, was der Holocaust war, in der Schule wurde das erst später Thema.
Als sie von Mietek Pemper erfuhr, was das für den einzelnen bedeutete und wie es ihm gelungen war, zu überleben, ließ sie das Thema nicht mehr los. „Ich wollte danach mehr darüber wissen, habe mir die Goebbels-Tagebücher und Hitler-Biografien gekauft, weil ich verstehen wollte, wie einer Gesellschaft so etwas passieren kann.“ Allerdings fand sie dort keine Antworten darauf, wie eine entwickelte Kultur in die Barbarei zurückfallen kann. In Erinnerung blieb ihr noch, wie Pemper auf ihre letzte Frage geantwortet hat, nämlich was er der jungen Generation mitgeben möchte. „Jeden Menschen nur danach beurteilen, wie er handelt“ – und nicht, wie er erscheint. Ein Rat, den Reichert bis heute zu beherzigen versucht.
Carmen Reichert will die Dauerausstellung an die Gegenwart anpassen
Nun kehrt Reichert nach Augsburg zurück. Im Museum wartet eine Aufgabe auf sie, die auch Barbara Staudinger gerne angegangen wäre: Die Neukonzeption der Dauerausstellung. Die Generalüberholung dessen, was permanent gezeigt wird, geschieht selten. Anders als bei Wechselausstellungen geht es noch viel stärker darum, was das Museum für seine Besucherinnen und Besucher sein will – wie es sich darstellen will. Es ist auch die Gelegenheit, neuen Bezug auf die Gegenwart zu nehmen.
Genau das hat Reichert vor. Die digitale Revolution der letzten beiden Jahrzehnte soll nun auch im Jüdischen Museum Augsburg-Schwaben einen stärkeren Niederschlag finden, etwa durch Multimedia-Stationen. Die Dauerausstellung soll an die Seh- und Hörgewohnheiten der Gegenwart angepasst werden. „Ich glaube, dass die jetzige Dauerausstellung für manche Besucherinnen und Besucher zu voraussetzungsreich ist.“ Auf der einen Seite möchte Reichert für Erstbesucherinnen und -besucher die Komplexität des Gezeigten reduzieren, auf der anderen Seite möchte sie über zusätzliche digitale Angebote – etwa Podcasts, die über QR-Codes zu erreichen sind – noch vertiefende Informationen unterbringen, die denen, die sich schon länger mit jüdischer Kultur beschäftigen, Neues zu bieten.
Stoff für die Arbeit des Jüdischen Museums Augsburg-Schwaben gibt es genügend
An den erfolgreichen Kurs bei den Wechselausstellungen und Projekten möchte sie anknüpfen. Ähnlich wie ihre Vorgängerin sagt sie: „Das Museum zu den Menschen zu bringen, anstatt zu warten, bis sie den Weg ins Museum finden, ist ein Gedanke, der auch meine Arbeit prägen wird.“
Stoff gibt es genügend für das Museum. Reichert möchte das jüdische Leben in Vergangenheit und in der Gegenwart in seiner Vielfalt und mit seinen Widersprüchen zeigen. „Aus weit über tausend Jahren schwäbisch-jüdischer Geschichte lassen sich unglaublich viele spannende Geschichten erzählen, die auch uns immer wieder überraschen. Es gab in Schwaben viele jüdische Händler und Hausierer, aber es gab eben auch jüdische Banditen, Biedermeier, Barrikadenkämpfer, Dirnen und Dienstboten“, sagt die 36-Jährige.