Startseite
Icon Pfeil nach unten
Augsburg
Icon Pfeil nach unten
Feuilleton regional
Icon Pfeil nach unten

Jazz im Regen: Émile Parisien verzaubert Augsburg

Augsburger Jazzsommer

Groove und Meditation: Émile Parisien jazzt in Augsburg

    • |
    • |
    Beste Freunde auf der Bühne: Das Émile Parisien Quartet beim 32. Internationalen Augsburger Jazzsommer
    Beste Freunde auf der Bühne: Das Émile Parisien Quartet beim 32. Internationalen Augsburger Jazzsommer Foto: Herbert Heim

    Was passt am besten zu Regen? Freejazz vielleicht? Doch das hier klingt nicht mal ansatzweise so, als hätte die Musik mit den äußeren Bedingungen eine unheilige Allianz gebildet. Sie strahlt vielmehr gleißende Wärme aus, und das hat das Publikum, dem man angesichts seiner Sitzfestigkeit bei nasskalten elf Grad das Prädikat „Hardcore-Fans“ verleihen müsste, auch bitter nötig. „Wow!“ entfährt es Émile Parisien, dem kleinen, bebrillten Franzosen in der Latzhose spontan, als er verblüfft die doch recht zahlreich erschienenen Menschen im Botanischen Garten sieht, die trotz des Sauwetters, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagt, bibbernd unter ihren Schirm hervorlächeln. Natürlich bleiben Plätze leer. Aber die Zuhausegebliebenen haben in der Tat einen höchst atmosphärischen, zauberhaften und spannenden Auftakt des 32. Internationalen Augsburger Jazzsommers verpasst. Ein Abend, bei dem sich Leiden in pure Freude verwandelt!

    Émile Parisiens Quartett konzertiert im Botanischen Garten

    Zwischenzeitlich beschleicht einen der Gedanke, ob die wie im Flug vergangenen 90 Minuten wohl im bis zur Coronapause bei jeder dunklen Wolke gerne aufgesperrten Schlechtwetter-Ausweichquartier Gewächshaus auch so gut funktioniert hätten. Parisien flirtet im netten Franko-Englisch mit den vor ihm sitzenden Regenponchos, freut sich über das unverdrossene Zwitschern der Vögel und das Quaken eines Frosches und legt sich mutmaßlich gerade deshalb so ins Zeug, weil er die Leute für ihre Hartnäckigkeit entlohnen möchte.

    Dabei unterstützen ihn seine engsten Freunde – nicht nur musikalisch, sondern auch privat –, die samt und sonders über herausragende Fähigkeiten verfügen und womöglich in einer anderen Zeit jeder für sich zu Weltkarrieren hätten durchstarten können. 20 Jahre spielen Schlagzeuger Julien Loutelier, Pianist Julien Touéry und Bassist Ivan Gélugne schon zusammen, eine Art Porzellanhochzeit. Wie in einer Ehe kennt man die Eigenheiten und Marotten der jeweils anderen inzwischen aus dem Effeff, die Jungs wissen genau, wann Émile Luft holen muss oder Julien seine Lieblingsblockakkorde aufruft. Auch im von der Improvisation lebenden Jazz kann es mitunter höchst fruchtbare, funktionierende Routinen geben.

    Ein Sopransax bringt Spannung in den Augsburger Jazzsommer

    Der perfekte Rahmen für einen Saxofonisten wie Émile Parisien, der sich längst auf das Soprano spezialisiert hat, während es fast alle anderen nur als Zweit- oder Drittinstrument neben Alt oder Tenor benutzen. Und er beherrscht das schlanke Horn wie derzeit kein anderer weltweit, kann es langsam klagen lassen, klassisch swingen oder in wilden, freien Ausritten auf Höchstgeschwindigkeit hochdrehen. Sein Ton klingt abwechselnd nasal, fruchtig oder fleischig, erinnert mal an eine Flöte, mal an eine Shehnai. Nie quäkt oder kreischt es. Man kann seine hohe Kunst nicht nur hören, sondern auch sehen. Stets spielt das Gesicht und der ganze Körper mit, Parisiens musikalisches Denken lässt sich gewissermaßen unmittelbar mitverfolgen.

    Er und die Seinen beschreiten einen nicht unbedingt revolutionären, aber in jeder Hinsicht unorthodoxen Weg. Sie wählen ein traditionelles akustisches Besetzungsformat, agieren damit anfangs weitgehend leise, fast kammermusikalisch, um dann wohldosiert über technoide elektronische Beats, Loops, Soundflächen und -bilder eine hinreißende Spannung zwischen Groove und meditativer Entspannung zu erzeugen.

    Die Setlist wirkt – analog zum aktuellen Werk „Let Them Cook“ - wie ein Kochbuch voller rätselhafter, aber durchwegs köstlicher Gerichte. Die Stücke tragen Namen wie „Pralin“, „Nano Fromage“, „Tiktik“, „Pistache Cowboy“, „Wine Time“ oder „Chocolat Citron“, und jeder kann sich angesichts solch lautmalerischer Kraft vorstellen, wie diese Kombination aus mild und feurig, bitter und süß, sauer und salzig auf der Zunge zergeht und direkt in den Gehörgang mündet.

    Émile Parisien klingt live noch fesselnder als auf dem Album

    Und noch ein wesentlicher Aspekt fällt beim Regen-Gastspiel von Émile Parisien im Botanischen Garten auf: Live wirkt die Musik des 41-Jährigen wesentlich plastischer, gegenständlicher, fesselnder als auf dem entsprechenden Album, das oft in sterilen Sackgassen stecken bleibt. Was nicht zuletzt auch am hervorragenden Sound liegt.

    „Coconut Race“, das vorletzte Stück an diesem irrwitzigen, wohltuenden Abend mit Émile Parisien, hat dann tatsächlich noch etwas von Freejazz; windend, wuselig, hektisch, bewusst chaotisch und herrlich leidenschaftlich. Aber irgendwie passen an diesem Tag, bei dieser Jazzsommer-Eröffnung, überhaupt keine Klischees: Jetzt regnet es nämlich nicht mehr!

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare

    Um Kommentieren zu können müssen Sie angemeldet sein

    Registrieren sie sich

    Sie haben ein Konto? Hier anmelden