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Harry Abraham besucht das Textilmuseum Augsburg

Augsburg

Warum hat niemand eingegriffen?

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    Noch steht die Nähmaschine der Abrahams nicht am richtigen Ort im Textilmuseum. Harry Abraham schaut sich die Ausstellung jedoch schon einmal an.
    Noch steht die Nähmaschine der Abrahams nicht am richtigen Ort im Textilmuseum. Harry Abraham schaut sich die Ausstellung jedoch schon einmal an. Foto: Peter Fastl

    Wenn diese Nähmaschine reden könnte, sie hätte viel zu erzählen, sehr viel. Von ihrer Zeit in Frickhofen (Westerwald) bis 1939, einer langen Reise per Eisenbahn und Schiff nach Shanghai. Ihrer Zeit dort in Asien, als sie den Lebensunterhalt der Familie Abraham garantierte. 1947 gelangte die Maschine in die USA, nach Cleveland (Ohio), wo sie weiterhin benutzt wurde, etwa um Pyjamas zu nähen, aber nur noch für private Zwecke. Nach dem Tod von Ida Abraham hat deren Sohn Harry Abraham der Nähmaschine vor seinem Büro einen Ehrenplatz zugewiesen. Jetzt hat das Gerät wieder eine Reise über den Atlantik angetreten. Für kurze Zeit kommt es nach Augsburg, um dort bis zum 17. November in der Foyer-Sonderausstellung "Nähen, um zu überleben" im Textilmuseum präsentiert zu werden.

    Die Eröffnung der Ausstellung am Donnerstag, 13. Juni, will auch Harry Abraham sehen. Er nutzt diesen Anlass gerade für eine Reise quer durchs Land. Er will wissen, dass die Familiengräber in Ordnung gehalten werden. Gemeinsam mit seiner Tochter Marcy Rosenthal und seinem Schwiegersohn Edward Rosenthal war er schon in Altenkirchen und Frickhofen. In Augsburg stößt auch Prof. Kevin Ostoyich dazu, der als Co-Kurator der Sonderausstellung schon länger und intensiv in Kontakt mit Abraham steht.

    Harry Abrahams erzählt mit Bedacht seine Familiengeschichte

    Um Harry Abraham für dieses Projekt zu gewinnen, habe er erst einmal einen Test bestehen müssen, berichtet Ostoyich. Abraham habe ihm gesagt, dass nur ein verschwindend kleiner Teil der Juden nach Shanghai ausgewandert sei, etwa 20.000 von den mehr als 500.000, die damals in Deutschland gelebt haben. "Warum darüber so viele Worte, so viel Aufhebens verlieren? Warum?" Abrahams hat nachgebohrt, und erst, als er von Ostoyichs Antwort überzeugt war, hat er sich bereit erklärt, mitzumachen.

    Im Augsburger Restaurant Nuno sitzt ein Mann von 86 Jahren, der mit Bedacht Teile seiner Familiengeschichte erzählt. Aus Frickhofen und Altenkirchen stammen sie. Nach dem Novemberpogrom 1938 spitzte sich die Lage für alle zu, wurde zum Beispiel Harry Abrahams Vater im Konzentrationslager Dachau zur Arbeit gezwungen. Der Mutter von Harry Abraham gelang es nach drei Monaten, sechs Tickets für die Ausreise nach Shanghai zu ergattern, sechs Mal Überleben. Wer ausreisen konnte, der durfte raus, sagt Abraham. Allerdings haben nur ihr Bruder, ihr Ehemann, ihr Sohn und sie selbst davon Gebrauch gemacht - also nur vier von sechs. Die Eltern wollten nicht gehen - und kamen in der Vernichtungsmaschine der Nationalsozialisten ums Leben.

    Seine Eltern erzählten wenig von der Zeit in Shanghai

    Harry Abraham war beim Weg ins Exil gerade ein Jahr alt. Dass er in einem Ghetto in Shanghai acht Jahre lang lebte, dass sich dort zwei Familien ein Zimmer teilen mussten, getrennt lediglich durch einen Vorhang, das empfand er damals nicht als außergewöhnlich schlimm. "Für mich war es die Normalität." Und später sprachen seine Eltern über diese Jahre in Shanghai wenig. Die Mutter erledigte Nähaufträge mit ihrer Nähmaschine und sicherte damit das Überleben der Familie. Als sich die Gelegenheit bot, zog die Familie weiter in die USA.

    Vergessen haben die Abrahams nie, was ihnen angetan wurde. "Wir müssen uns erinnern und dieses Andenken bewahren", sagt Tochter Marcy Rosenthal. Und Harry Abraham stellt dazu die quälende Frage, auf die es keine schnelle Antwort, vielleicht sogar gar keine Antwort gibt. "Warum? Warum ist das geschehen? Warum hat man das zugelassen? Warum ist niemand eingeschritten? Warum?" Abraham fragt das nicht wie ein Mensch, der zutiefst verbittert ist, sondern wie ein Chirurg, der mit ruhiger Hand und präzisen Schnitten den Schmerzpunkt freilegt. 

    Die Sonderausstellung "Nähen, um zu überleben", die in Kooperation mit dem Käte Hamburger Research Centre "global dis:connect" an der Ludwig-Maximilians-Universität in München entstand, ist vom 14. Juni bis zum 17. November im Foyer des Textilmuseums zu sehen. Die Öffnungszeiten sind Dienstag bis Sonntag von 9 bis 18 Uhr. Der Eintritt ist frei.

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